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Die Entmündigung (German Edition)

Die Entmündigung (German Edition)

Titel: Die Entmündigung (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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der Künstler, Kenner oder Dummköpfe eingereiht wird, die ihn aus Neid, aus kritischer Machtvollkommenheit oder aus Vorurteil in seiner Begabung festhalten, weil sie alle glauben, es gäbe Schwielen in jedem Gehirn, und so denkt die Welt von den Schriftstellern, den Staatsmännern, allen Leuten, die mit einer Spezialität beginnen, bevor sie für umfassend begabt anerkannt werden, – so wurde Popinot eingereiht und in seiner Besonderheit eingeschlossen. Die Richter, die Advokaten, die Anwälte, alles was das Justizterrain abweidet, unterscheiden bei einer Rechtssache zwei Elemente: das Recht und die Billigkeit. Die Billigkeit ergibt sich aus den Tatsachen, das Recht ist die Anwendung der Gesetze auf die Tatsachen. Es kann einer nach billigem Ermessen Recht und nach richterlichem Unrecht haben, ohne daß dem Richter ein Vorwurf zu machen wäre. Zwischen dem Gewissen und der Tatsache gibt es einen Abgrund von bestimmenden Gründen, die dem Richter unbekannt sind und doch eine Tatsache verurteilen oder für gesetzmäßig erklären. Ein Richter ist kein Gott, seine Pflicht ist, die Tatsachen den rechtlichen Grundsätzen anzupassen und über die bis ins Unendliche voneinander abweichenden Einzelheiten sein Urteil zu sprechen, indem er festbestimmte Grundsätze anwendet. Hätte der Richter die Macht, im Gewissen der einzelnen zu lesen und die Motive zu erkennen, um seine Urteile der Billigkeit entsprechend zu fällen, so wäre jeder Richter ein großer Mann. Frankreich braucht ungefähr sechstausend Richter; keine Generation vermag sechstausend große Männer in seinen Dienst einzustellen, um so weniger kann es solche für seine Richterschaft auftreiben. Popinot war inmitten der Pariser Gesellschaft ein sehr gewandter Kadi, der infolge seiner geistigen Begabung und, weil er den Buchstaben des Gesetzes auf das Wesen der Tatsachen anzuwenden verstand, erkannt hatte, wie falsch es war, ohne Grundlage und überstürzt zu urteilen. Als Richter mit einer Art von zweitem Gesicht begabt, drang er durch die Hülle der doppelten Lüge, hinter der die Verteidiger den Kern des Prozesses zu verbergen pflegen. Er war Richter, wie der berühmte Desplein Chirurg war, und verschaffte sich einen Einblick in das Gewissen wie der Gelehrte in den Körper. Sein Leben und seine moralischen Anschauungen hatten ihn zu einer genauen Bewertung der geheimsten Gedanken durch die Prüfung der Tatsachen geführt. Er durchforschte einen Prozeß, wie Cuvier die Erdkruste durchforschte. Wie dieser große Denker ging er von Deduktion zu Deduktion, bevor er seinen Schluß zog, und stellte daraus den Vorgang im Gewissen her, wie Cuvier ein Anoplotherium rekonstruierte. Anläßlich eines Berichts wachte er oft nachts auf, überrascht von einem Aufleuchten der Wahrheit, die plötzlich vor seinem Denken erglänzte. Betroffen von der schweren Ungerechtigkeit, die Kämpfe abschließt, bei denen alles einen ehrenhaften Mann im Stiche läßt oder alles zum Heil der Schurken ausschlägt, fällte er sein Urteil häufig gegen das Recht, zugunsten der Billigkeit, zumal in Fällen, wo es sich um Fragen handelte, die man gewissermaßen nur ahnen konnte. Er galt daher unter seinen Kollegen als ein wenig praktischer Geist, seine langausgedehnten Gründe verlängerten außerdem die Beratungen; wenn Popinot bemerkte, daß sie ihm nur widerwillig zuhörten, äußerte er seine Meinung kurz. Man sagte, daß er diese Art von Geschäften falsch beurteile; aber da seine geniale Bewertung erstaunlich, seine Beurteilung klar und sein Eindringen tief war, wurde er als besonders befähigt für das schwierige Amt eines Untersuchungsrichters angesehen. Er blieb also Untersuchungsrichter während des größten Teils seiner Tätigkeit. Obgleich seine Fähigkeiten ihn ganz besonders für dieses schwierige Amt geeignet machten und er den Ruf hatte, ein scharfsinniger Kriminalist zu sein, dem seine Tätigkeit zusagte, peinigte ihn seine Herzensgüte beständig, und er steckte zwischen Gewissenhaftigkeit und Mitleid wie in einem Schraubstock. Obgleich höher bewertet als die eines Zivilrichters, führt die Tätigkeit eines Untersuchungsrichters niemanden in Versuchung; sie ist zu niedrigstehend. Popinot, ein Mann voll Bescheidenheit und tugendhaftem Gewissen, ohne Ehrgeiz und ein unermüdlicher Arbeiter, beklagte sich nicht über seinen Beruf: er opferte dem öffentlichen Wohl seine Vorliebe und sein Mitleid und ließ sich in die Untiefen der Strafuntersuchung verschleppen, wo er
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