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Die Entmündigung (German Edition)

Die Entmündigung (German Edition)

Titel: Die Entmündigung (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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gleichzeitig streng und wohltätig sein konnte. Manchmal übergab sein Gerichtsdiener dem Angeklagten Geld, um sich Tabak zu kaufen oder einen warmen Rock im Winter, wenn er ihn aus dem Richterzimmer nach der ›Souricière‹ brachte, dem Untersuchungsgefängnis, in dem man die Verhafteten zur Verfügung des Untersuchungsrichters hält. Er verstand es, ein unbeugsamer Richter und ein wohltätiger Mensch zu sein. Deshalb wurden auch niemandem leichter Geständnisse gemacht, ohne daß er zu richterlichen Überrumpelungen greifen mußte. Im übrigen besaß er den scharfen Blick des Beobachters. Dieser Mann mit seiner scheinbaren naiven, einfachen und zerstreuten Güte kam hinter die Schliche der Spaßvögel des Bagnos, überlistete die verschlagensten Frauenzimmer und ließ die Verbrecher zu Kreuze kriechen. Wenig bekannte Umstände hatten seine Umsichtigkeit geschärft; aber um sie zu schildern, ist es nötig, in sein intimes Leben einen Einblick zu erhalten; denn der Richter war nur seine soziale Form; ein anderes Wesen, größer und weniger bekannt, steckte in ihm.
    Zwölf Jahre vor dem Tage, an dem diese Geschichte beginnt, im Jahre 1816, bei jener schrecklichen Teuerung, die verhängnisvollerweise mit dem Aufenthalt der Alliierten in Frankreich zusammenfiel, wurde Popinot zum Vorsitzenden der außerordentlichen Kommission ernannt, um die Bedürftigen seines Bezirks zu unterstützen, gerade als er vorhatte, die Rue du Fouarre zu verlassen, die zu bewohnen, ihm nicht weniger unangenehm war als seiner Frau. Der große Rechtsgelehrte, der tiefe Kriminalist, dessen Überlegenheit von seinen Kollegen wie eine Verirrung angesehen wurde, hatte seit fünf Jahren die Prozeßergebnisse beobachtet, ohne die Gründe des Verbrechens wahrnehmen zu können. Wenn er in die Dachkammern hinaufstieg, das Elend mitansah und die bittere Not vor Augen hatte, die die Armen schrittweise zu schlimmen Handlungen verführte, wenn er schließlich ihre langen Kämpfe ins Auge faßte, dann wurde er von Mitleid ergriffen. Dann wurde der Richter der heilige Vincent de Paula dieser armen Kinder, dieser kranken Arbeiter; aber diese Umwandlung vollzog sich nicht sofort vollständig. Die Wohltätigkeit hat ihren Reiz wie die Laster. Wohltun frißt die Börse eines Heiligen auf wie das Roulette das Vermögen des Spielers, stückweise. Popinot schritt von Unglück zu Unglück, von Almosen zu Almosen; dann, als er alle die Lumpen, die dieses Volkselend verhüllen wie ein Pflaster, unter dem sich eine fieberbringende Wunde verbirgt, gelüftet hatte, wurde er nach einem Jahre die Vorsehung seines Bezirkes. Er wurde Mitglied des Wohltätigkeitskomitees und der Unterstützungsgesellschaft. Überall, wo eine unentgeltliche Arbeit in Frage kam, nahm er sie auf sich und schaffte, ohne sich zu rühmen, wie »der Mann mit dem kleinen Mantel«, der sein Leben damit hinbringt, Suppe auf die Märkte und, wo sonst verhungerte Leute sind, zu bringen. Popinot hatte das Glück, in einem sehr großen Umkreise und in einer höheren Sphäre zu arbeiten: er überwachte alles, er verhütete das Verbrechen, er gab den beschäftigungslosen Arbeitern Arbeit, er brachte die Schwachen unter, er verteilte seine Unterstützungen mit Unterschieden an allen bedrohten Punkten, indem er der Ratgeber der Witwe, der Beschützer der Kinder ohne Unterkunft, der Teilhaber an kleinen Geschäften wurde. Weder im Gerichtspalast noch in Paris kannte jemand dieses geheimnisvolle Leben Popinots. Es gibt so hervorragende Vorzüge, daß man sie nicht verbergen kann: Die Menschen sorgen dafür, daß man sie nicht unter den Scheffel stellt. Was die Schützlinge des Richters anlangt, so waren sie alle, die den Tag über arbeiteten und nachts ermüdet waren, wenig geeignet, ihn zu rühmen; sie waren undankbar wie die Kinder, die sich niemals dankbar bezeigen, weil sie zu viel schulden. Es gibt eine erzwungene Undankbarkeit; aber wenn ein Herz das Gute aussät, um Dankbarkeit zu ernten, kann es sich noch für groß halten?
    Vom zweiten Jahre seines geheimen Apostolats ab hatte Popinot schließlich das Magazin im Erdgeschoß des Hauses in ein Sprechzimmer verwandelt, das sein Licht von den drei Fenstern mit eisernen Gittern erhielt. Mauern und Decke dieses großen Raumes waren weiß gestrichen, und das Mobiliar bestand aus Bänken wie in der Schule, einem plumpen Schrank, einem Nußbaumholzbureau und einem Sessel. In dem Schrank befanden sich seine Wohltätigkeitsregister, seine Brotmarken und sein
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