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Die Entfuehrung

Die Entfuehrung

Titel: Die Entfuehrung
Autoren: Frances Watts
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Flurlicht spiegelte, wenn sie abends für den Gute-Nacht-Kuss an sein Bett kam. Oder wie sich die Barthaare seines Vaters kräuselten, wenn er lachte, was er oft tat.
    Alistair zog leicht am Ende des Schals, den er um den Hals gewickelt hatte, und dachte an den Abend, an dem ihm seine Mutter ihn gegeben hatte.
    »Pass gut darauf auf«, hatte sie gesagt, als sie den Schal auf sein Kopfkissen legte, »und verliere ihn nie.«
    Er hatte sofort erkannt, dass es der Schal war, den sie am Kamin gestrickt hatte, ehe sie und sein Vater abgereist waren. Emmeline war ständig am Stricken. In den ersten acht Jahren seines Lebens war das Klappern von Stricknadeln das Erste, was er hörte, wenn er morgens aufwachte, und das Letzte, was er hörte, wenn er einschlief. Sie färbte auch ihr Garn selbst mit umwerfenden Farbtönen, wobei ihr Alistair manchmal half. Alles, was sie strickte, hatte bunte Streifen – außer diesem Schal. Er hatte zugesehen, wie der Schal immer länger wurde. Sie hatte ein Musteraus seltsamen Formen und Schnörkeln hineingearbeitet, in allen denkbaren Farben, die er teils kannte (Safran, Smaragd und Türkis), teils aber auch mit Farben, von denen er noch nicht einmal gehört hatte (Heliotrop, Zinnober und Ultramarin). Es gab nur einen klaren Streifen, der blau war und sich über die ganze Länge des Schals zog. Es war ein seltsames Machwerk, ganz anders als alles, was Emmeline bisher gestrickt hatte, aber Alistair fand den Schal echt schön. Er konnte gar nicht glauben, dass sie ihn extra für ihn gestrickt hatte.
    Alistair konnte nicht genau erklären, warum, aber es kam ihm so vor, dass die Worte seiner Mutter, als sie ihm den Schal gegeben hatte, von besonderem Gewicht gewesen waren. Dass der Schal ein spezielles Versprechen zwischen ihnen beiden darstellte. Im Lauf der Zeit kam es ihm sogar so vor, als würde er seine Mutter irgendwie vergessen, sollte er den Schal verlieren. Daher hatte er den Schal jeden Tag und jede Nacht um, selbst mitten im Sommer, so wie jetzt. Er legte ihn nur ab, wenn er ein Bad nahm oder schwimmen ging – oder wenn Onkel Ebenezer darauf bestand, ihn ab und zu waschen zu dürfen ...
    Onkel Ebenezers Geschichte von der Rettung ihres Vaters, als er damals fast vom Baum gefallen war, hatte Alice und Alex inspiriert. Deshalb hingen sie jetzt kopfüber mit den Knien über der Sofalehne.
    »War es so, Onkel?«, fragte Alice. »Das ist doch leicht!«
    »Nicht so leicht, wenn man eine andere Maus am Schwanz hält«, erklärte Ebenezer.
    Alex versuchte sofort, Alices Schwanz zu packen, und rief: »Lass es mich mal versuchen!« Dann gelang es jedoch Alice, Alex’ Schwanz zu ergreifen, während ihr Onkel durch das Gerangel rief: »Aber vergesst die Schwünge nicht – ihr müsst dabei auch Schwung nehmen ... Nun komm schon, Alistair, versuch es auch mal!«
    Angefeuert von ihrem Onkel hatten alle drei jungen Mäuse mehrere lautstarke Versuche unternommen, von der Sofalehne abzuspringen – ohne nennenswerten Erfolg –, als sich Tante Beezer vor ihnen aufbaute.
    Stirnrunzelnd schüttelte sie den Kopf. »Ihr drei ...«, sagte sie.
    Alex, Alice und Alistair nahmen an, dass der Lärm ihre Tante störte, und ließen schuldbewusst die Köpfe hängen. Oder das hätten sie zumindest getan, wenn sie nicht schon kopfüber gebaumelt hätten. Doch als Alistair sich vom Sofa fallen ließ und seine Tante richtig herum sehen konnte, stellte er fest, dass sie lächelte.
    »Ihr drei, ihr seid so unterschiedlich wie ein Apfel, ein Käse und ein Pingpongball.«
    Und tatsächlich, wenn man bedachte, dass sie Drillinge waren, sahen sie sich überhaupt nicht ähnlich. Alex war groß, kompakt und kräftig; wenn er Alice bei einer Rangelei schlagen wollte, setzte er sich einfach auf sie. Alice hingegen, eher zierlich, war flink und drahtig und konnte Alex meistens davonlaufen, ehe er sich auf sie setzen konnte. Alistair, der durchschnittlich groß und kräftig war, versuchte Situationen zu meiden, bei denen er in denSchwitzkasten kam oder gejagt wurde (weswegen er sich selbst für den Vernünftigsten der drei hielt).
    Natürlich unterschieden sie sich nicht nur durch ihre Größe: Alex war weiß wie der Vater der drei und hatte am rechten Schulterblatt einen braunen Fleck. Alice war schokoladenbraun wie ihre Mutter und hatte einen weißen Fleck auf der rechten Hüfte. Alistair war rotbraun, wie – wie keine andere Maus, die ihm je untergekommen war, wenn seine Eltern auch behauptet hatten, dass es viele
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