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Die Entfuehrung

Die Entfuehrung

Titel: Die Entfuehrung
Autoren: Frances Watts
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stumpf und struppig geworden und ihre früher so lebhaften Augen waren umschattet.
    Das Bündel in ihren Armen begann sich zu regen, und ihre Augen leuchteten kurz auf, als sie ein schmutziges Tuch aufwickelte und ein Mäusebaby enthüllte, das nicht mehr als ein paar Monate alt war. Es war klein für sein Alter, aber das war nicht das, was so ungewöhnlich an ihm war.
    »Eine Rotbraune!«, sagte Großvater Nelson, als er den ersten Schock überwunden hatte. »Eine kleine Rotbraune.«
    »Rötlich blond«, verbesserte ihn Großtante Harriet, seine Schwester, scharf. Großtante Harriet fuhr den Leuten gerne über den Mund.
    »Sie ist rosig«, sagte die Mutter des Babys leise. »Wie der Hauch der ersten Morgenröte.« Und sie berichtete ihrem Vater und ihrer Tante, dass sie ihre Tochter Tibby (nach der großen Forscherin Charlotte Tibby) und Rose genannt habe (weil ihr Fell so hellrosig schimmerte).
    Dann berichtete Lucia, dass ihr Mann tot sei und sie heimkehren und bleiben wolle. Natürlich hatten sie sofort gemerkt, dass es ihr sehr schlecht ging. Und obwohl Großvater Nelson, der von Beruf Arzt war, sich von seiner Arbeit am Krankenhaus beurlauben ließ, um sie zu pflegen, dauerte es keine sechs Wochen und Lucia starb. Großtante Harriet kündigte ihre Stellung als Rektorin an der Grundschule von Tempelton, um sich um Tibby Rose zu kümmern, und nachdem Großvater Nelson einige Jahre später in den Ruhestand ging, hatten sie sie gemeinsam großgezogen, so, wie sie auch die Mutter der Kleinen großgezogen hatten.
    Seit jener dramatischen Ankunft in dem alten weißen Haus auf dem Berg in jener stürmischen Nacht hatte sich absolut nichts mehr in Tibby Roses Leben ereignet. Sie ging auf keine Schule, weil Großtante Harriet beschlossen hatte, ihre Großnichte zu Hause zu unterrichten. Wenn sie krank war, musste sie nicht zum Arzt in der Stadt, denn wer wäre geeigneter gewesen, sich um sie zu kümmern, als ihr eigener Großvater? Galt er doch als einer der bestenÄrzte in Tempelton. Genau genommen, sah Tibby Rose also keine anderen Mäuse als ihre Großtante und ihren Großvater. Hoch oben auf dem Berg am Stadtrand gab es keine Nachbarn, mit denen Tibby Rose hätte reden können. Die einzige Gesellschaft, abgesehen von ihren beiden ältlichen Verwandten, fand sie in den Büchern aus Großtante Harriets riesiger Bibliothek.
    Als sie noch jünger war, hatte Tibby Geschichten verschlungen, vor allem Geschichten voller Abenteuer und aufregender Erlebnisse und Geschichten über Familien und Freundschaft. Doch es war schon einige Jahre her, seit sie solche Bücher gelesen hatte. Die Abenteuergeschichten machten ihr nur deutlich, wie langweilig ihr eigenes Leben war, und wenn sie Bücher über Familien oder Freundschaft las, kam sie sich einsam vor. Die Bücher, die Tibby jetzt gerne las, waren Tatsachenberichte: über das Leben berühmter Personen, über Länder und Menschen, oder Anleitungen, wie man etwas herstellte oder baute. Es waren Bücher über Projekte, die sie beschäftigten und sie ihre Einsamkeit nicht so sehr spüren ließen.
    Ihre Lieblingsbücher waren alle von Charlotte Tibby geschrieben. Es ging um ihre unglaublichen Reisen und um die Überlebenstechniken, die sie sich dabei angeeignet hatte. Tibby Rose wünschte sich, eines Tages die Welt ebenso zu bereisen wie diese Tibby. Sie wollte interessante neue Menschen kennenlernen und fremde und wunderbare Orte sehen. Immer mehr hatte sie das Gefühl, in dem alten weißen Haus auf dem Berg zu ersticken,so ganz ohne andere Leute außer Großvater Nelson und Großtante Harriet. Allmählich befürchtete sie, ihr Leben könne endlos so weitergehen, ein Tag wie der andere, und sich niemals ändern.
    Bis sich eines Tages – an einem Tag, der wie jeder andere anfing – doch etwas veränderte.

    Tibby Rose wachte auf, zog sich an und machte ihr Bett, genau wie immer. Sie lief die Treppe hinunter zum Frühstück, genau wie immer. Sie hörte, wie sich Großvater Nelson und Großtante Harriet über den Bräunungsgrad der Toastscheiben stritten, genau wie immer. Sie trat auf die Veranda hinaus und ging die Stufen hinunter, um die Milchflasche zu holen, die am Postkasten stand, genau wie immer.
    Doch auf einmal ging es anders weiter. Gerade bückte sie sich, um nach der Milchflasche zu greifen, da lag sie flach auf dem Bauch und bekam kaum Luft. Etwas Schweres drückte sie zu Boden.
    Mit einem erschrockenen Quieken, das vom Gras gedämpft wurde, kämpfte und rangelte sie
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