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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität.
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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sich an einer bestimmten Stelle der Eiweißkette befindet, was mit der Dichte der Elektronenhülle des Moleküls zusammenhängt, und so weiter. Zweifellos verursachen die zur Aufzeichnung benützten wandernden elektromagnetischen Felder durch ihre Einwirkung bei den Atomen des Körpers kleine Abweichungen von ihren vorherigen Zuständen, die jedoch so geringfügig sind, daß der Organismus sie ohne Schaden übersteht. Ist die Aufzeichnung fertig, schicken wir sie über den Draht, der Empfänger setzt sich, sowie die Information eingegangen ist, in Bewegung, und am anderen Ende der Leitung wird ein Kopie-Individuum geschaffen. Dieses Individuum gleicht vollkommen dem Original, das indessen davon nichts zu wissen braucht, sondern die Kabine verlassen und heimgehen kann, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß in der Zwischenzeit irgendwo eine Kopie von ihm oder sogar eine Legion von Kopien entstanden ist. Das war unser erstes Experiment.
       Nun setzen wir die zweite Apparatur in Gang. Ihre Wirkungsweise ist sehr viel brutaler, da der Führungsstrahl materieförmig ist, die abgeschossenen Teilchen also auf die einzelnen Atome des Körpers aufprallen, zunächst die der äußeren Schichten, dann die der tieferen, und so weiter. Es kommt jedesmal zu einem Zusammenstoß, einer Karambolage, und aus der Abweichung des abgeschossenen Teilchens, dessen Impuls uns bekannt ist, lesen wir die ursprüngliche Lage und Masse des getroffenen Teilchens (des Körperatoms) ab. So gelangen wir zu unserer zweiten Aufzeichnung, die genauso exakt ist wie die erste, nur haben wir durch die bloße Prozedur den Organismus pulverisiert, der sich nach der Beendigung unserer Tätigkeit in ein unsichtbares Wölkchen verwandelt hat.
       Man beachte bitte, daß wir in beiden Fällen genau die gleiche Informationsmenge gewinnen, nur daß wir beim zweiten Mal während der Ablesung den ursprünglichen Organismus zerstören. Da nun die Zerstörung allein auf die Brutalität der Apparatur zurückzuführen ist, eine Brutalität, welche den Umfang der erlangten Information in keiner Weise erhöht, ist die Zerstörung für die Informationsübermittlung als solche nebensächlich und steht weder mit ihr noch mit der anschließend erfolgenden Synthese der atomaren Kopie am anderen Ende der Leitung in irgendeinem Zusammenhang.
       Die Informationsübertragung und die durch sie ermöglichte Synthese erfolgen nämlich in beiden Fällen in genau der gleichen Weise. Da sie in der gleichen Weise erfolgen, ist es klar, daß das Schicksal des Originals für das Geschehen am anderen Ende des Drahtes nicht die geringste Bedeutung hat. Mit anderen Worten: Dort, beim Empfänger, entstehen in beiden Fällen absolut gleichartige Individuen. Da wir jedoch für den ersten Fall bewiesen haben, daß das entstandene Individuum nicht die Fortsetzung des Originals sein konnte, muß das folglich auch für den zweiten Fall gelten. Wir haben somit bewiesen, daß das im Synthetisator geschaffene Individuum immer nur eine Imitation, eine Kopie und nicht das »per Draht verschickte Original« ist, woraus wiederum zu entnehmen ist, daß jenes aus der Aufzeichnung und Übermittlung der Information bestehende »Einschiebsel«, welches wir in die Ursachenund Wirkungs-Zusammenhänge der organismischen Existenz eingefügt haben, in Wirklichkeit nicht bloß ein Einschiebsel, nicht bloß eine Zäsur innerhalb der kontinuierlichen Lebenslinie eines identischen Individuums ist, sondern die Schaffung eines imitierenden Individuums, eines Zwillings gewissermaßen darstellt, wobei das Original entweder am Leben bleibt oder umkommt. Sein Los hat für die Kopie überhaupt keine Bedeutung, da sie niemals die Fortsetzung des Originals ist; was nun das Original betrifft, so widerlegt es im ersten Falle, wo es am Leben bleibt, allein durch seine Gegenwart die Auffassung, als sei es irgendwohin »telegrafiert« worden, während es im zweiten Falle durch seine Vernichtung den (falschen, wie wir gerade gezeigt haben) Eindruck hervorruft, als sei die »Reise durch den Draht« doch gelungen.
       Zum Schluß wollen wir das Experiment in einer Variante vorführen, die ohne die Aufstellung einer atomaren Matrize wie auch ohne atomaren Synthetisator auskommt. Heute läßt es sich noch nicht verwirklichen, doch sind in dieser Richtung schon bedeutende Fortschritte gemacht worden. Es geht um die Aufzucht eines befruchteten menschlichen Eis außerhalb des Organismus. Dieses Ei ist zu halbieren. Die eine
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