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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität.
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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makroskopischen Wirklichkeit einen solchen Indeterminismus nicht gibt. Nimmt man als Beispiel den Mord an dem Präsidenten Kennedy, dann wird jeder zugeben müssen, daß dieser Mord nur in ganz konkreter Weise verübt wurde; wenn es zwei Mörder gab, dann konnte es nicht drei geben und wenn es nur einer war, dann war es eben nur einer usw. Zwar wissen wir nicht mit hundertprozentiger Sicherheit, was passierte. Wenn wir auch nicht ganz sicher sein können, daß diese Angelegenheit irgendwann einmal endgültig geklärt werden wird, so wissen wir doch sehr gut, d. h. ohne jeden Zweifel, daß nicht irgendwelche Naturgesetze, nicht irgendeine übermenschliche Kraft noch total undurchdringbare Barrieren die Aufklärung dieses Sachverhaltes vereitelten, sondern allein konkrete, sekundäre Umstände, d. h. Umstände, die nicht durch theoretisch-gnoseologische Begrenzungen charakterisiert sind. Die Flugbahn eines einzelnen Elektrons nicht zu kennen und die Flugbahn der Geschosse, die den Körper des Präsidenten Kennedy durchlöcherten, nicht zu kennen, sind vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus zwei völlig verschiedene Dinge. Die Unkenntnis des ersten Sachverhaltes ist fundamental, sie ist in der Natur der Materie selbst enthalten und wird niemals und durch nichts geändert werden. Die Unkenntnis des zweiten Sachverhaltes resultiert aus dem Mangel an Beobachtungsunterlagen, aus der Unzuverlässigkeit menschlicher Beobachtung, aus unzureichend durchgeführten Untersuchungen, vielleicht auch aus der Cleverness der Attentäter und aus anderen Umständen, die wohl einen für die gegebene Situation (z. B. den verübten Mord) undurchdringbaren Schirm abgeben können, die aber für die Situation keine immanente Eigenschaft darstellen.
       Eine Welt jedoch, in der die Phantomatik verwirklicht ist, wird die obige Unterscheidung samt und sonders liquidieren.
       In solch einer Welt gilt pr inzipiell und ausnahmslos die Regel, daß niemand völlig sicher sein kann, es mit der »natürlichen Wirklichkeit« zu tun zu haben. Und sie gilt nicht deshalb, weil in solch einer Welt perfide Gangsterbanden zum Zuge kommen könnten, die irgendwelche Personen »phantomatisch zu verhaften« suchen, indem sie sie z. B. im Schlaf entführen und an Fiktionsgeneratoren anschließen, nein, nicht solche Umstände — Umstände verbrecherischer, polizeilicher, administrativer, also sozialer Natur — heben die Differenzierung zwischen der Wirklichkeit und der Fiktion der Wirklichkeit auf; es ist die neue Technologie selbst, die diese Differenzierung allein durch die Tatsache ihrer Entstehung liquidiert. »Die Bedrohung durch die Phanromatisierung« kann aus praktischer Sicht so weit auf Null hin reduziert werden, daß sie die Wahrscheinlichkeit von einer Trillion oder einer Quadrillion bekommt. Dadurch wäre sie eine Eventualität, die niemand, der alle Sinne beisammen hat, real in Betracht zöge. (So wie niemand die doch durchaus mögliche Eventualität real in Betracht zieht, daß er morgen — getroffen von einem aus den Sternen kommenden Meteoriten — tot umfällt.) Das Problem, um das es geht, hat einen anderen, hat einen metapraktischen Charakter. Es geht um die subversive Tätigkeit, durch die die Phantomatik unsere Beziehung zur Welt pervertiert. Die Phantomatik schließt nämlich die Existenz eines Testes aus, der die Wirklichkeit von der Illusion unterscheiden könnte. Man kann das auch so formulieren: wenn ein solcher Test dennoch durchführbar ist, dann haben wir es nicht mit der Phantomatik zu tun, sondern mit einer ihrer überaus primitiven und dadurch verkrüppelten Prototypen.
       Wenn jemand in einer Zivilisation, in der diese Technik bereits realisiert wurde, Zweifel an der Authentizität seiner Erlebnisse bekommt und wenn in ihm der Verdacht aufkommt, daß er heimlich von der Wirklichkeit abgeschnitten wurde und daß er alles, was er empfindet, phantomatisch empfindet, dann gibt es keine Methode, kein experimentum crucis, das ihm beweisen könnte, daß es nicht so ist. Er könnte zu einem Freund oder zu einem Arzt gehen und diese um Rat und Hilfe bitten; doch auch sie könnten, wie übrigens alle Menschen, mit denen er in Kontakt kommt, ein Produkt der phantomatischen Maschine und nicht das der Realität sein. Er könnte auf Reisen gehen, er könnte die verschiedensten Forschungen betreiben, er könnte letztendlich Selbstmord begehen, doch auch das könnte Teil einer phantomatischen Täuschung sein. Unser argwöhnischer
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