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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität.
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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Held könnte verlangen, daß man ihm Menschen zeigt, die sich — im Gegensatz zu ihm — regungslos neben der phantomatisierenden Maschine ausruhen; er könnte sie sich anschauen, er könnte in Erfahrung bringen, mit welchen einprogrammierten Visionen ihre Gehirne gefüttert wurden, aber auch das könnte alles eine ihm zugefügte Täuschung sein. Wenn, wie gerade gesagt wurde, eine phantomatisierte Person in einer Surrogatwelt andere Menschen einer Phantomatisierung unterzieht, dann öffnet sich hier der Abgrund eines klassischen regressus ad infinitum.
       Dieses Problem soll hier erörtert werden, wobei ich mich auf die Besprechung der Werke dreier Autoren beschränken möchte. Dies werden sein: »Gray Matters« von William Hjortsberg, »Raw Meat« von Richard Geis sowie eine Gruppe der besten Romane von P. K. Dick mit »Ubik« an der Spitze.

       1)Das erste Buch präsentiert uns eine irdische Zivilisation, die fast geschlossen phantomatisiert ist; das zweite beschreibt eine spezifische Variante, in der die Phantomatisierung das soziotechnische Instrument absoluter Machtausübung ist; es handelt sich hier um eine Anti-Utopie, die nur Vorwand für eine typisch pornographische Absicht ist. Was nun die Bücher Dicks betrifft, so haben für ihn phantomatische Techniken — in dem Sinne, wie ich es skizziert habe — eigentlich keine Rolle gespielt; doch gerade er schuf Werke, die sowohl zur phantastischen Literatur gehören als auch Visionen von Beziehungen beschreiben, denen die menschliche Welt nach der totalen Spaltung der individuellen Realität unterworfen ist.
       William Hjortsberg ist ein Homo novus in der SF. Wenn man genau sein will, müßte man sagen, daß er eigentlich nur bedingt zur SF gehöre, weil sein Buch — durch die Aufmachung wie durch den Verleger — seine Zugehörigkeit zur SF nicht signalisiert: im Gegenteil, das Buch wollte dies verheimlichen; mit diesem Trick haben Autoren und Herausgeber mehr als einmal versucht, Bücher vom Typ SF in Leserkreise »einzuschmuggeln«, die sonst phantastische Literatur nicht in die Hand nehmen.
       »Gray Matters« nimmt eine außerordentlich instruktive Position ein. Hjortsberg übertrifft als Schriftsteller — durch die Phraseologie, durch den geschickten Witz, der obszöne Details entschärft (»sie hielt nicht viel von Männern, die ihr Glied als eine Verlängerung der Unendlichkeit betrachteten«), durch die gekonnten lyrischen Beschreibungen — zweifelsohne Geis (der übrigens in einem, von ihm selbst herausgegebenen Amateur-»Fanzine« zugab, daß er »Raw Meat«, diese pornographische SF, aus kommerziellen Gründen geschrieben habe). Doch »Raw Meat«, das von einem SFProfi verfaßt wurde, birgt, wie wir zeigen werden, ein paradigmatisches Skelett in sich — und das ist in der SF sehr oft so! — das bei einer anderen Belletrisierung seinen — auch intellektuellen — Wert offenbaren könnte. Die Gesamtstruktur von »Gray Matters« ist jedoch einfach ungereimt. Nach dem kurzen, furchtbaren Weltkrieg entschloß sich die Föderationsregierung, alle Bürger einer Cerebroektomie zu unterwerfen; in unterirdischen, sich meilenweit erstreckenden Depositorien leben dann die Gehirne, die in eine Nährflüssigkeit eingetaucht sind und von einer Armee wachsamer Automaten beaufsichtigt werden; diese Gehirne sind Teile eines wunderlichen Kasten-Systems; jedes Gehirn hat seinen »Auditor«, der sich um die »seelische Entwicklung« des Gehirns zu kümmern hat, um etwas, was zwischen dem Einüben in ein Pseudojoga und einer Stabilisierung der Persönlichkeit im Sinne der westlichen Psychotherapie angesiedelt ist; ein stufenweise »avancierendes« Gehirn (in der Terminologie des Autors ein »Cerebromorph«) erlangt auf der höchsten Etage, der zehnten, das Recht auf »Reinkarnation«: es wird in einen der »fertigen«, in Anabiose befindlichen, natürlichen menschlichen Körper implantiert. Danach — von niemandem mehr abhängig — wird es zu einem Mitglied einer der »Ur-gruppen«, die — jeweils einige hundert Menschen stark — auf der erneut üppigen, wilden und herrlichen Erde leben. Damit haben wir eine »Anti-Utopie« von Gehirnen vor uns, die in sterilen unterirdischen Kammern eingeweckt sind, und über denen sich die »Utopie« einer vollkommenen Rückkehr zur Natur ausbreitet. Die »deponierten« Gehirne, die »Cerebromorphen« also, kommen in den Genuß aller Möglichkeiten, die die phantomatische Technologie ihnen bieten kann. Sie
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