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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität.
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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der Sache überhaupt nichts ändert. Woher will der Hauptcomputer des »Control Center« wissen, daß er die Reinkarnierten auf die Erde schickt und daß er selbst nicht mit einem anderen phantomatisierenden Computer verkoppelt ist, der seinerseits diese Erde aus elektronischen Impulsen schafft? Der Gedanke, daß die einen Gehirne — die in den Weckgläsern schwimmen —, andere Gehirne aus einem anderen Regal denunzieren könnten, ist sogar amüsant. Doch diese Kreuzung aus einem Bienenstock, einem Kindergarten, einem pyramidenartigen Kastensystem und einem Masturbantenclub (jeder Cerebromorph kann sich tagelange Orgasmen bestellen) ist außerphantomatisch nicht realisierbar, und eine einmal beschworene Phantomatik macht jedes Streben nach einem von ihr unabhängigen arkadischen Sein vergeblich. Auch die Gedanken der Cerebromorphen über sich selbst als einem grauen Eingeweide, das in einer Nährflüssigkeit schwimmt, stellen eine irrationale Obsession dar, weil unser aller Gehirn eben solch ein graues Eingeweide ist, das in eben solch einer Flüssigkeit (Hirnflüssigkeit) schwimmt. Und der Umstand, daß unsere Schädeldecke nicht die Transparenz von Glas hat, ist in der Tat nicht besonders signifikant. Die Phantomatik überstieg den Plan des Autors, deshalb hat er sie auch abgehackt, um im Rahmen eines »Bienenstocks mit Hirnlarven« eine Projektion der amerikanischen gesellschaftlichen Beziehungen, die er für signifikant hielt, unbehindert durchführen zu können. Die thematische Prädetermination, die gegenüber der tatsächlichen Problematik des Bereiches — in den man mit dem Gedanken, neue Möglichkeiten zu suchen, eintritt —, mit Blindheit geschlagen ist, ist ein chronisches und fast unheilbares Leiden der Science-fiction.

    2)»Raw Meat« von Richard Geis ist, wie man sagt, Pornographie à la SF. Sex finden wir auch in »Gray Matters«, doch spielt er dort eine untergeordnete Rolle. Vielleicht ist die Bemerkung angebracht, daß in der zeitgenössischen Prosa des Westens solche Inklusionen keine schockierende Wirkung mehr haben, im Gegenteil, schockierend wirkt deren Nichtv orhandensein. Wir geben zu, daß es einem Schriftsteller aus unserer Gesellschaftsordnung die Sprache verschlägt, wenn die Verleger, Kritiker und Kollegen des Westens ihn nach den Ursachen der fast viktorianischen Enthaltsamkeit in der Erotik fragen. Aufgrund solcher offenherzigen Fragen könnte man meinen, daß ein psychologisches Porträt, das nicht die Kopulationscharakteristik des Helden oder der Heldin enthält, dort einfach als unvollständig angesehen wird. Natürlich ist das eine Frage der jeweiligen Konventionen, Die Reste der normativen Ethik, die Balzac die lakonische Bemerkung nicht erlaubte, daß der — in Orgelmusik versunkenen — Markgräfin B die Hämorrhoiden juckten, wurden besonders intensiv an der Sex-Front zerschlagen, und sie unter die Lupe zu nehmen, gilt als obligatorisch. Wenn schon diese Parole der Modernität vom Schriftsteller verlangt, »aufs Ganze zu gehen«, dann verdient die Defäkationsproblematik sogar noch mehr Aufmerksamkeit. Psychiatern und Psychologen ist der Umstand gut bekannt, daß die Abführfunktionen bei vielen Menschen von sehr freien Träumereien, oft vom Typ »Träume von Macht und Herrschaft« begleitet sind; deshalb gibt es für mich keinen rationalen Grund, warum das Benehmen im Bett wichtiger sein sollte als das Benehmen auf dem Klosett. Das Gesagte kann nur von denjenigen als eine Verleumdung der Liebe angesehen werden, die Sex-Techniken mit höheren Gefühlen gleichsetzen. Das Leben wäre in der Tat um vieles einfacher, doch ich fürchte auch langweiliger, als es ist, könnte man die Macht der Gefühle einfach durch ungeheure Potenz ersetzen. In der Literatur ist es schon so weit gekommen; es ist sicher einfacher zu beschreiben, wer, wem, wohin und wie was reinsteckt, als die individualisierte Unwiederholbarkeit von Anziehung und Repulsion, von Kämpfen und all den anderen Turbulenzen, aus denen die Liebe gewöhnlich gemacht ist, zu schildern. Die »Detabuisierung« der SexAngelegenheiten stellt daher einen Nachlaß-Tarif vor allem für die Literatur-Zwerge dar — einen kurzlebigen Tarif übrigens, weil dort, wo alle ständig unanständige Sachen sagen, nichts mehr unanständig ist. Etwas anders verhält es sich mit der Pornographie vom Zuschnitt perseverierender Anstrengung. »Raw Meat«, das ist eine ziemlich große Portion Pornographie im Gewand der Science-fiction. Doch es
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