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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität.
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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ist weder gute SF noch geschickte Pornographie. (Pornographie, die bereits nach zwei Seiten einschläfernd wirkt, halte ich nicht für gelungen.) Trotzdem verdient dieses Werk Beachtung. Sein Rahmen stellt eine typische Antiutopie dar. In einer übervölkerten, armen und hungernden zukünftigen Welt leben unter hermetischen Glaskuppeln und unter der Herrschaft einer »Digitalmaschine« (Mother Computer) die Reste der amerikanischen Zivilisation. Im Grunde lebt man unter diesen Kuppeln ähnlich wie heute in den USA (nur schlechter): es gibt eine immer gegenwärtige Reklame, Automatisation, Klimatisierung usw. Die größten Innnovationen erfolgten im Bereich des Geschlechtslebens. Die Kopulation zwischen den Menschen unterliegt einem strikten Verbot; der unsittlichste Körperbereich ist der Bauchnabel, weil er an die Nabelschnur, also an die Geburt erinnert; man darf weder auf dem Körper noch auf dem Kopf auch nur eine Spur von Haaren haben. Das Geschlechtsleben ist total phantomatisiert. Jeder Bürger besitzt eine Maschine, die ihm das Erleben beliebig komplizierter Sex-Orgien ermöglicht. Dies ist das letzte Asyl des Privatlebens. (Doch auch hier wagt niemand, den Bauchnabel zu enthüllen oder auch nur ein Haar auf dem Kopf zu haben.) Diese Orgien sind in den entsprechenden Läden — wie heute Magnetbänder — zu kaufen (es sind übrigens Bänder — »sex tapes«). Der Sex »aus der Konserve« ist im Vergleich zum natürlichen Sex vollkommen, da die Partner sich durch ungewöhnliche Schönheit und unerschöpfliche Kräfte auszeichnen, und dabei duftet und schmeckt alles — bis zu den Sekretionen der Geschlechtsteile — vorzüglich (nach Coca-Cola, nach Apfelsinen usw.). Der Held, ein junger Mann, verhält sich jedoch trotz all dieser Möglichkeiten dissidentisch und nimmt sich am Ende, nachdem er von der Arbeit fliegt, das Leben. Seine Nachbarin, ein Backfisch, gibt sich ähnlich wie er langen Seancen mit »Sex aus der Konserve« hin; die Beschreibung dessen, was beide erleben, bildet den Kern des Romans. Zufällig lernen sie sich kennen und — hungrig auf die verbotene Frucht der authentischen Kopulation (nicht auf Liebe — auf solch einen Gedanken kamen sie nicht) — unternehmen sie einen Versuch, der mit einem Fiasko endet. Das Mädchen ist frigide, der junge Mann — halb impotent. Beide laufen in Konfusion auseinander und suchen so schnell wie möglich Trost bei ihren »G-Eileratoren« (wenn man diesen Neologismus aufgrund des marathonischen Charakters der Erlebnisse, die die Apparate liefern, benutzen darf).
       Dieser Roman birgt in sich — wie ein kranker Körper ein gesundes Skelett — eine Gesamtstruktur, die bei einer anderen, gleichsam optimalisierten Bearbeitung das pornographische Werk zu einem Problemwerk hätte machen können. Zuerst: die Idee, daß der Sex das hauptsoziotechnische Werkzeug der Versklavung der Bürger sei, ist ein gewisses Novum. Besonders interessant ist die Szene, in der die Keime des illoyalen Denkens, das in dem Kopf der Heldin entstanden war, durch den Geschlechtsverkehr mit der »Computer- Mutter« liquidiert werden. (Das ist insofern möglich, als in einer phantomatischen Vision alles möglich ist; der MutterComputer, der dem Mädchen viele liebe und zärtliche Worte ins Ohr flüstert, verdoppelt sich in diesem Moment, verdreifacht sich, ja er vervielfältigt sich sogar noch weiter und vermehrt sich körperlich, um dem Mädchen sowohl sexuell als auch staatsräsonmäßig eine Gefälligkeit zu erweisen.)
    Die »G-Eileratoren« sind einfach die Phantomatik, die der totalen Subordination und der geistigen Entmündigung der Menschen dient; doch der Autor hat nicht erkannt, daß das Werk größere Bedeutung hätte erlangen können, wenn er es von den traditionellen Accessoires der Antiutopie befreit hätte: Polizei, nächtliche Durchsuchungen, Verhöre usw. Die Polizei und die von ihr vorgenommenen Verfolgungen zu hassen, das ist keine Kunst; aus diesem Haß kann man den Wunsch, um die menschliche Würde zu kämpfen, ableiten; doch das ist schwerer bei Institutionen durchzuführen, die man völlig freiwillig — in Erwartung einer neuen Portion Lust — betritt.
       Solche Institutionen erweisen sich als lebenslängliche Gefängnisse, die man nur frigide oder impotent verlassen kann; denn der synthetische Sex majorisierte durch die technische Vollkommenheit der »Succuben« und »Incuben« aus der Konserve den natürlichen Sex. Wie man sich ein »sexuelles
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