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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität.
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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aus denen das Gehirn von Herrn Smith sich zusammensetzte. Wir hatten diese Reagenzgläser im Kühlraum auf dem Tisch abgestellt, der Laborant stieß den Tisch um, und als er sich vor dieser Katastrophe sah, bemühte er sich, ihre Spuren rasch zu beseitigen; die Überreste der verschütteten Elemente sammelte er in neuen Reagenzgläsern ein, und was fehlte, ergänzte er anhand der Aufzeichnungen im Laborbuch, wo wir bis aufs einzelne Atom genau festgehalten hatten, was sich in welchem Reagenzglas befindet. Noch haben wir uns von dieser Nachricht nicht erholt, noch sehen wir durchs Fenster, wie Herr Smith, sein Spazierstöckchen herumwirbelnd, sich über den Hof entfernt, da öffnet sich die Tür, und ein zweiter Smith tritt herein. Was ist geschehen? Als die heruntergefallenen Reagenzgläser zerbrochen am Boden lagen, hatte der Laborant es eilig und sammelte von den verschütteten Elementen nur die Hälfte ein, doch sein Kollege, der ihm einen Gefallen tun wollte, sammelte später die verstreuten Reste der Elemente sorgfältig ein, ergänzte wiederum das Fehlende anhand des Laborbuches, brachte eigenhändig die Atome an die richtige Stelle, setzte voller Eifer den Entfroster in Gang und ließ Herrn Smith Nr. 2. auferstehen.
       Welcher von den Herren Smith ist nun eigentlich die Fortsetzung des Eingefrorenen, der erste oder der zweite? Jeder besitzt ungefähr die Hälfte der »originalen« Atome, was übrigens insofern unwesentlich ist, als die Atome keine Individualität haben und der Organismus sie beim Stoffwechsel fortwährend austauscht. Es sieht ganz so aus, als sei es zur Vervielfältigung von Herrn Smith gekommen. Aber was ist mit dem Original? Lebt es in beiden Körpern oder vielleicht eher in keinem von ihnen? Anders als bei dem Experiment mit der Durchtrennung des Balkens zwischen den beiden Hemisphären des Gehirns ist die Frage diesmal unentscheidbar, da es an jeglichen empirischen Kriterien fehlt, auf die man sich stützen könnte. Man könnte natürlich das Dilemma willkürlich auflösen, indem man sich zum Beispiel darauf einigt, daß unser Bekannter, den wir ständig derart halsbrecherischen Versuchen unterwerfen, in beiden Herren S. seine Fortsetzung findet. Das ist bequem, in dieser Lage vielleicht sogar notwendig, doch muß diese Lösung moralische Vorbehalte wecken. Uns vertrauend, begab sich Herr Smith mit der gleichen Gelassenheit in den Hibernationskühlschrank, mit der er die Telegrafenkabine betreten hatte, aus der wir ihn nach dem Schlag mit dem Hammer an den Füßen herauszogen, ein wenig getröstet durch sein vielfaches Erscheinen auf den Planeten des Sonnensystems. In jenem Falle kam es, wie wir bewiesen haben, zum Mord. Und in diesem? Gewiß scheint das Fehlen einer Leiche für uns zu sprechen, aber dann könnten wir Smith ja auch in ein Wölkchen von Atomen auflösen; uns liegt jedoch nicht so sehr daran, auf unbemerkte und äußerst ästhetische Weise einen Mord zu begehen, als vielmehr daran, ihn überhaupt nicht zu verüben.
       Wir fangen an, den Verstand zu verlieren. Gibt es vielleicht eine immaterielle Seele, die in der Struktur des Gehirns wie ein Vogel im Käfig gefangen ist und den Fesseln des Körpers entfleucht, wenn die Stäbe des Käfigs, das heißt hier: die atomaren Strukturen, aufgebrochen und bis ins letzte zerteilt werden? Nur die Verzweiflung treibt uns zu derart metaphysischen Hypothesen. Aber auch sie helfen uns nicht weiter. Was geschah nach dem Durchtrennen des großen Hirnbalkens? Haben wir damit vielleicht gleichzeitig die immaterielle Seele in zwei Teile zerlegt? Doch andererseits — sind nicht aus den telegrafischen Empfängern scharenweise ganz normal beseelte Smiths hervorgekommen, woraus — wenn es überhaupt eine Seele gibt — offensichtlich geschlossen werden muß, daß jeder atomare Synthetisator sie mit Leichtigkeit zusammenbauen kann? Aber es geht ja gar nicht darum, ob Herr Smith eine immaterielle Seele hat; nehmen wir an, er hat eine. Es geht darum, daß jeder neue Smith in jeder Hinsicht absolut genauso sein sollte wie der originale Smith, und das war er ja nicht, weil wir außer der Personenbeschreibung, dem Telegrafen usw. auch noch den Hammer benutzen mußten! Dieser Erklärungsversuch hilft uns also nicht weiter.
       Doch vielleicht beruht das Paradoxon darauf, daß unsere Gedankenexperimente zu den Möglichkeiten der realen Welt genauso im Widerspruch stehen wie etwa die Vorstellungen von einer Reise mit unendlicher Geschwindigkeit
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