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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität.
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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schon zwei seiner Kameraden ins endlose All und somit in den Tod gefolgt sind. Wieder steht Pirx vor der Aufgabe, hochgradig abhängig von den Sensoren und Monitoren seines Projektils, dem anvisierten Objekt als realem zu folgen oder es als Fiktion zu entlarven. Erst nachdem er ohne Erfolg alle Register seines astronautischen Könnens gezogen hat, um das helle Objekt einzuholen oder zu identifizieren, entsinnt er sich seiner verschollenen Vorgänger: »Denn er, Pirx, mußte etwas völlig anderes tun. Sonst gab es auch für ihn keine Wiederkehr« (Lem 1977, 25). Ein Wendemanöver offenbart schließlich die Herkunft des vermeintlichen Flugobjekts: »Wenn das Pünktchen bei der Wendung weiterhin im Bild blieb, hieß das ganz einfach, daß es gar nicht existierte, daß es im Wiedergabegerät selbst erzeugt wurde!« (Lem 1977, 29.)
       Beide Erzählungen zeigen, daß kleinste phantomatische Segmente, und seien es nur Lichtpunkte auf Monitoren, ausreichen, um sich in dem daraus resultierenden Labyrinth tödlich zu verirren. So ist das Spektakuläre an diesen phantomatischen Illusionen, daß sie nicht spektakulär im Sinne der virtuellen Realitäten des Cyberspace sind. Doch bereits diese Lichtpunkte verdeutlichen das, was Jean Baudrillard als die »Emanzipation des Zeichens« diagnostiziert hat (Baudrillard 1982, 18). Zunehmend wird nicht mehr mit dem Menschen und konkreten Realitäten kommuniziert und interagiert, sondern mit Bildern und Symbolen, die, so die These Baudrillards, immer häufiger über keine realen Äquivalente mehr verfügen. So interagiert Pirx in den zitierten Erzählungen nicht mit tatsächlichen Objekten, sondern mit fiktiven, die er aber, jedenfalls für eine gewisse Zeit, für tatsächliche hält. Dabei ist es völlig unerheblich, ob diese Phantome zufällig oder absichtlich generiert wurden. Für das Denken und Handeln ist einzig und allein entscheidend, daß zwei Wirklichkeitsebenen miteinander konkurrieren, wobei eine allerdings völlig immateriell und fiktiv ist.

    Phantomatik versus Futurologie

       Von der peripheren zur zentralen Phantomatik. Während Pirx sich mit vergleichsweise winzigen phantomatischen Details auseinandersetzen muß, erfährt Ijon Tichy im Futurol ogischen Kongreß eine Welt, die sich mit Hilfe einer permanenten zentralen Phantomatik gleich mehrfach ihrer konkreten Wirklichkeit entledigt hat. Bewirkt wird diese totale Entwirklichung ohne EyePhone und DataGlove, ohne Interface und Cyberspace und eröffnet eine wahrhaft horrible Vision des Jahres 2098, die die Welt der postmodernen Cyberpunks noch relativ überschaubar erscheinen läßt.
       Hochkomplexe Psychopharmaka werden dem Trinkwasser beigegeben oder als Aerosole versprüht und suggerieren eine Wirklichkeit, die mit der konkreten Welt kaum noch etwas gemein hat. Nur mit illegal beschafften Antiseren läßt sich, wie Tichy von Professor Trottelreiner erfährt, die Wirkung dieser Designerdrogen zeitweise aufheben: »Mit bebenden Händen entkorkte ich das Fläschchen. Der Professor nahm es mir weg, als ich kaum den stechenden Mandelduft eingesogen hatte. In die Augen schossen mir reichliche Tränen. Als ich sie mit der Fingerspitze weggestreift und die Lider abgewischt hatte, da verschlug es mir den Atem: der herrliche Saal mit Majolika-Wänden, Teppichen, Palmen, prunkvoll schimmernden Tischen und einem im Hintergrund postierten Kammerorchester, das uns zum Bratengang aufgespielt hatte, das alles war verschwunden. Wir saßen an einem nackten Holztisch in einem Betonbunker; unsere Füße versanken in einer arg zerschlissenen Strohmatte. (...) Das schneeige Tafeltuch war fort; statt der Silberschüssel, worin auf knusprigem Brot das Rebhuhn geduftet hatte, stand vor mir ein Teller aus Steingut; darauf lag ein unappetitlicher graubrauner Breiklumpen; er blieb an der Zinngabel kleben, deren edler Silberglanz ebenfalls erloschen war« (Lem 1974, 99f.).
       Doch nach dieser schockierenden Desillusionierung ahnt Tichy bereits, daß es nicht nur eine phantomatische Ebene der Wirklichkeit gibt, sondern vielleicht sogar eine Vielzahl von Ebenen. So begibt er sich mit weiteren und wirksameren Seren auf eine regelrechte Tour de force durch die im Laufe der Zeit psychochemisch generierten Ebenen einer multiplen Wirklichkeit: »Versteinert starrte ich auf die ablaufende Verwandlung, und in gräßlich würgendem Vorgefühl ahnte ich bereits, daß die Wirklichkeit nun ihre nächste Schicht von sich abschälen sollte;
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