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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität.
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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offenbar folgte seit undenklichen Zeiten eine Fälschung auf die andere, so daß ein stärkeres Mittel höchstens mehr an Hüllen abreißen und tiefere erreichen konnte, weiter nichts« (Lem 1974, 120f.).
       Am Ende blickt Tichy auf eine vollkommen überbevölkerte Welt, deren technisch-industrielle Umgestaltung endgültig gescheitert ist. Der von allen wahrgenommene gesellschaftliche wie technische Fortschritt fand lediglich in einer durch Drogen designten Realität statt. Wie schon in Transfer ist auch im Futurologischen Kongreß der Verlust der natürlichen Lebenswelt der Grund für diese ebenso perfekte wie makabre Kompensation, wie Tichy schließlich von George Symington erfährt: »Wir spenden Ruhe, Heiterkeit und Erleichterung auf die einzige noch verbliebene Art. Wir halten in Schwebe, was ohne uns in allumfassende Agonie versinken müßte. Wir sind die letzte Stütze dieser Welt. Ihr Atlant. Da sie nun einmal zugrunde gehen muß, bleibt dafür zu sorgen, daß sie nicht leidet« (Lem 1974, 125).
       Die in dieser Erzählung beschriebene Struktur der Wirklichkeit gleicht den mehrfach übereinandergeschriebenen Texten eines Palimpsestes, die zwar alle gleichzeitig existieren, jedoch nur einer nach dem anderen gelesen werden können. Es ist zwar immer dieselbe Welt, in der Tichy lebt, doch kann er jeweils nur eine ihrer zahlreich sedimentierten Wirklichkeitsebenen wahrnehmen. Die Metapher »Palimpsest« bietet sich zudem an, da Lem sie in der Ne uen Kosmogonie selbst verwendet, um den Aufbau der Wirklichkeit zu verdeutlichen (Lem 1971, 176). Lem liefert mit dem Futurologischen Kongreß ei n über den konkreten Inhalt hinausreichendes Paradigma unserer postmodernen Wirklichkeit, deren palimpsestische Struktur längst allgemein Wirkung zeigt.
       Die beißende Ironie dieser Episode aus dem wahrlich ereignisreichen Leben Ijon Tichys trifft in diesem Zusammenhang insbesondere die Futurologie, jene Wissenschaft, die sich ein Objekt auserkoren hat, das zum Zeitpunkt seiner Erforschung noch nicht existiert: die Zukunft. In Lems Erzählung, darin liegt eben die Ironie, existiert sie zum Zeitpunkt ihrer Erforschung bereits nicht mehr. Während also der Achte Futurologische Weltkongreß in Costricana die Ursachen drohender Weltkatastrophen diskutiert, haben diese sich längst ereignet. Wie Tichy am eigenen Leib erfahren muß, sind auch die Futurologen Gefangene im Labyrinth der palimpsestisch strukturierten Wirklichkeit, sind auch sie Opfer der zentralen Phantomatik, die das Leben der Menschen in virtuelle Realitäten führt, weil die konkrete

    Welt kein akzeptables Leben mehr zuläßt.

    Artifizielle Realität und Wirklichkeit

       Lange vor William Gibson oder Marvin Minsky hat also Lem, wie die hier kurz skizzierten Beispiele zeigen, die Erzeugung artifizieller Realitäten theoretisch fundiert und literarisch thematisiert. Dabei rückt er weniger die konkreten wissenschaftlich-technischen Verfahren ins Zentrum seiner Antizipationen, sondern versucht vielmehr, die historische und soziale Funktion sowie die Auswirkungen auf das menschliche Realitätsverständnis zu klären. Zugleich erlaubt ihm der Begriff der Phantomatik, sämtliche Varianten artifizieller Wirklichkeiten zu erfassen, vom Lichtpunkt auf einem Monitor bis zur totalen Entwirklichung. Folgt man der Lemschen Definition, so ist Cyberspace lediglich eine dieser Varianten, eine Ebene der palimpsestisch strukturierten Wirklichkeit, die den tradierten Wirklichkeitskonsens ablöst.
       Literarisch überlegen ist Stanislaw Lem dem in diesem Zusammenhang vielzitierten Gibson ohnehin, denn gerade in Werken wie dem Futurologischen Kongreß umgeht Lem grundlegende Schwächen der Science-fiction, indem er gegenwartsrelevante Begriffe vermeidet. Während er seine Zukunftswelten mit erfundenen Begriffen sprachlich erschafft und sich damit unabhängig von konkreten Termini macht, läßt sich Gibson auf eine ausführliche Diskussion technischer Details und aktueller Begriffe ein, die rasch antiquieren, wie Peter Glaser zu Recht kommentiert: »Der Neuromancer liest sich heute an manchen Stellen richtig drollig und umständlich, etwa als versuche jemand, einem Watussi zu erklären, was ein Soundsampler ist« (Glaser 1991, 205).
       Darüber hinaus stellt Lem ungleich humorvoller als Gibson und mit philosophischem Weitblick die zentrale und existentielle Frage nach dem Sinn der technisch aufwendigen Industrialisierung der Phantasie, deren jüngster Triumph
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