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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit
Autoren: Sten Nadolny
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Veränderungen beobachtet, den
Sonnenstand, die Steigungen des Bodens – er wußte, wo es zurückging. Er ritzte
eine Zeichnung in den Waldboden, aber sie wollten sich die gar nicht ansehen.
Sie trafen eilige Entscheidungen, die sie ebensoschnell wieder umstießen.
Allein konnte John nicht zurück, sie hätten ihn nicht gehen lassen. Sorgenvoll
schlich er hinter den kleinen Königen des Schulhofs her, die ihr Ansehen der
Schnelligkeit verdankten und jetzt nicht wußten, wie es weitergehen sollte.
Wäre nicht der schottische Viehtreiber gewesen, sie hätten im Freien übernachtet.
    Jetzt stand die Sonne im Zenit. In der Ferne bevölkerte eine
Schafherde die Nordseite eines Hügels. Die Wassergräben wurden häufiger, die
Wälder dünner. Er sah weit ins flache Land hinein und erkannte Windmühlen,
Alleen und Herrensitze. Der Wind frischte auf, die Möwenschwärme wurden größer.
Bedächtig überwand er Zaun um Zaun. Kühe kamen nickend und schaukelnd, um ihn
zu besichtigen.
    Er legte sich hinter eine Hecke. Die Sonne füllte seine Augen hinter
den geschlossenen Lidern mit rotem Feuer. Sherard, dachte er, wird sich
betrogen fühlen. Er schlug die Augen wieder auf, um nicht traurig zu werden.
    Wenn man nur so dasäße und ins Land schaute wie ein Stein, ganze
Jahrhunderte lang, und aus Grasflächen würden Wälder, und aus Sümpfen Dörfer
oder Äcker! Niemand würde ihm eine Frage stellen, man würde ihn als Menschen
nur erkennen, wenn er sich bewegte.
    Von der Erdbevölkerung konnte man hier hinter der Hecke nichts
weiter hören als ferne Hühner und Hunde, und ab und zu einen Schuß. Vielleicht
begegnete er im Wald einem Räuber. Dann wäre der Schilling dahin.
    John stand auf und schritt weiter durch die Marschwiesen. Die Sonne
sank schon zum Horizont, weit hinten über Spilsby. Die Füße schmerzten, die
Zunge klebte. Er umging ein Dorf. Immer breitere Gräben waren zu durchwaten
oder zu überspringen, und John sprang schlecht. Dafür hörten die Hecken auf. Er
folgte einem Weg, obwohl er auf ein Dorf hinführte, dessen Kirche so aussah wie
St. James. Die Vorstellung vom elterlichen Haus und vom Abendessen schob er
leicht beiseite. Er dachte trotz des Hungers vergnügt, daß sie jetzt dort saßen
und warteten, sie, die nicht warten konnten, und daß sie Bemerkungen für seine
Ohren sammelten, die sie nicht loswerden würden.
    Das Dorf hieß Ingoldmells. Die Sonne ging unter. Ein Mädchen
verschwand mit einer Last auf dem Kopf ins Haus, ohne ihn zu sehen. Da erkannte
John jenseits des Dorfs das, was er suchte.
    Eine bleigraue, riesenhaft ausgedehnte Ebene lag da, schmutzig und
neblig, wie ein ausladender Brotteig, etwas drohend wie ein ferner Stern von
nah gesehen. John atmete tief. Er setzte seine Füße in einen stolpernden Trab
und lief auf das ausladende Ding zu, so schnell er konnte. Jetzt hatte er den
Ort gefunden, der zu ihm gehörte. Das Meer war ein Freund, das spürte er, auch
wenn es im Augenblick nicht so gut aussah.
    Es wurde dunkel. John suchte nach dem Wasser. Es gab nur Schlamm und
Sand und dünne Rinnsale, er mußte warten. Hinter einer Bootshütte liegend,
starrte er auf den schwärzlichen Horizont, bis er einschlief. Nachts wachte er
mitten im Nebel auf, ausgekühlt und hungrig. Das Meer war jetzt da, er hörte
es. Er ging hin und senkte sein Gesicht auf wenige Fingerbreit über die Linie,
wo das Land ins Meer überging. Wo die war, ließ sich aber nicht genau
ausmachen. Mal saß er im Meer, mal an Land, das gab zu denken. Woher kam nur
der viele Sand? Wohin verschwand das Meer bei Ebbe? Er war glücklich und klapperte
mit den Zähnen. Dann ging er wieder zur Hütte und versuchte zu schlafen.
    Morgens tappte er am Ufer entlang und beobachtete die Gischtfetzen.
Wie kam er auf ein Schiff? Zwischen schwarzen, faulig riechenden Netzen
zimmerte ein Fischer am umgedrehten Boot. John mußte sich seine Frage gut überlegen
und sie etwas üben, damit der Fischer nicht gleich die Geduld verlor. In der
Ferne sah er ein Schiff. Die Segel schimmerten vielfältig in der Morgensonne,
der Rumpf war schon jenseits der Wasserkante verschwunden. Der Mann sah Johns
Blick, kniff die Augen zusammen und prüfte das Schiff. »Das ist eine Fregatte,
ein Mann des Krieges.« Ein etwas erstaunlicher Satz! Dann zimmerte er wieder.
John sah ihn an und
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