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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit
Autoren: Sten Nadolny
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besonders starke
Unterzähne, er sah aus wie ein wohlwollender Bullenbeißer. Sein Blick war
scharf und sicher, es war immer deutlich, wo er hinsah und was ihn wirklich
interessierte. Matthew wollte von John eine Menge hören und wartete geduldig,
bis die Antworten fertig waren und herauskamen. Auch John hatte viel zu fragen.
Es wurde Abend.
    Wenn einer vom Meer etwas verstand, dann hieß das Navigation. John
sprach das Wort einige Male nach. Es bedeutete: Sterne, Instrumente und
sorgfältige Überlegungen. Das gefiel ihm. Er sagte: »Segel möchte ich setzen
lernen!«
    Bevor Matthew ging, beugte er sich näher zu John heran. »Ich fahre
jetzt zur Terra australis, ich werde zwei Jahre lang weg sein. Danach bekomme
ich ein eigenes Schiff.« Terra australis, terra australis«, übte John.
    Â»Lauf nicht wieder weg! Du kannst ein Seemann werden. Du bist
allerdings etwas nachdenklich, also mußt du Offizier werden, sonst erlebst du
die Hölle. Versuch die Schule zu überstehen, bis ich wieder da bin. Ich schicke
dir noch Bücher über Navigation. Ich werde dich als Midshipman auf mein Schiff
nehmen.«
    Â»Bitte noch mal!« bat John. Als er alles genau verstanden hatte,
wollte er gleich wieder schneller werden.
    Â»Es geht schon viel besser«, verkündete der Arzt mit Stolz. »Gegen
die Kaskarillenrinde kommt das böse Blut nicht an!«

Drittes Kapitel
    Dr. Orme
    Alle Knöpfe falsch geknöpft: noch einmal von vorne! War
das Halstuch ordentlich gebunden, die Kniehose zureichend geschlossen? Vor dem
Frühstück Überprüfung der äußeren Person durch den Unterlehrer. Durchgefallen:
kein Frühstück. Für jeden falsch sitzenden Knopf: Nasenstüber. Waren die Haare
nicht gekämmt: Kopfnuß. Den Kragen der Weste über den Rock legen, die Strümpfe
glattziehen. Lauter Gefahren lauerten schon am Anfang des Tages. Schuhe mit
Schnallen, Ärmelaufschläge, Rockschöße und der Hut, diese Falle!
    Das Anziehen war bestimmt eine gute Übung für später. Die Schule
hatte Nachteile, aber John war fest davon überzeugt, daß man an jedem Ort der
Welt irgend etwas für das Leben lernen konnte, also auch in der Schule. Selbst
wenn dem nicht so war, kam Flucht nicht in Frage. Es mußte gewartet werden –
wenn nicht aus Lust, dann aus Klugheit.
    Von Matthew noch keine Nachricht. Aber warum auch? Zwei Jahre, hatte
er gesagt, und die waren noch längst nicht um.
    Lernen im Unterricht. Der Schulraum war dunkel, die
Fenster hoch droben, draußen Herbststurm. Dr. Orme saß wie in einer Altarnische
hinter seinem Pult, und auf diesem stand die Sanduhr. Alle Körner mußten durch
die Engstelle, um unten denselben Haufen zu bilden wie vordem oben. Der
entstandene Zeitverlust hieß Lateinstunde. Es wurde schon kühl, und der Kamin
war beim Lehrer.
    Die ältesten Schüler hießen Moderatoren, sie saßen oben an der Wand
und überwachten alle anderen. In der Nähe der Tür saß Unterlehrer Stopford und
notierte sich Schülernamen.
    John starrte gerade auf die Windungen in Hopkinsons Ohr, da wurde
eine Frage an ihn gerichtet. Aber er verstand ihren Sinn. Jetzt Vorsicht! Bei
eiligen Antworten kam sein Stottern und Würgen, das störte die Zuhörer. Andererseits
hatte Dr. Orme schon in der ersten Woche ein für alle Mal erklärt: »Wer das
Richtige sagt, braucht dabei nicht gut auszusehen!« Daran konnte man sich
halten.
    Aufsagen, Konjugieren, Deklinieren, den richtigen Casum setzen. Wenn
das geschafft war, hatte er wieder Zeit für die Windungen Hopkinsons oder für
die Mauer, die er durchs Fenster sah, nasse Ziegel und flatternde Schlingpflanzen
im Sturm.
    Lernen in der freien Zeit am Abend. Bogenschießen im Hof
erlaubt, Würfeln und Kartenspielen verboten. Schach erlaubt, Backgammon
verboten. Wenn er durfte, ging John zu seinem Kletterbaum, wenn nicht, dann las
er oder übte etwas. Manchmal probierte er Schnelligkeit mit dem Messer: die
eine Hand lag gespreizt, mit der anderen stieß er die Klinge in die Dreiecke zwischen
seinen Fingern. Das Messer war entwendet, der Tisch litt empfindlich, und ab
und zu traf es einen der Finger. Es war ja nur die Linke.
    Auch Briefe schrieb er, an Mutter oder an Matthew. Beim Schreiben
wollte ihm nie einer zusehen, dabei schrieb er gern und in Schönschrift. Wie er
den Gänsekiel eintauchte, abstreifte, die Buchstaben malte, das Blatt
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