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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit
Autoren: Sten Nadolny
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Zäune, die ihn Stunden gekostet hatten, vorüberflimmerten auf
Nimmerwiedersehen.
    Jetzt hatte er keine Zuversicht mehr. Auf das Erwachsenwerden
wollte er nicht mehr warten! Eingesperrt in die Kammer mit Wasser und Brot,
damit er daraus etwas lerne, wollte er auch nichts mehr lernen. Bewegungslos
starrte er immer auf den gleichen Fleck, ohne etwas zu sehen. Sein Atem ging,
als sei die Luft wie Lehm. Seine Lider schlossen sich nur alle Stunden, er ließ
alles laufen, was lief. Jetzt wollte er nicht mehr schnell werden. Im
Gegenteil, er wollte sich zu Tode verlangsamen. Es war sicher nicht leicht,
Kummers zu sterben ohne Hilfsmittel, aber er würde es schaffen. Allem
Zeitablauf gegenüber würde er sich jetzt willentlich verspäten und bald so
nachgehen, daß sie ihn ganz für tot hielten. Der Tag der anderen würde für ihn
nur eine Stunde dauern, und ihre Stunde Minuten. Ihre Sonne jagte über den
Himmel, platschte in die Südsee, schoß über China wieder herauf und rollte über
Asien weg wie eine Kegelkugel. Die Leute in den Dörfern zwitscherten und
zappelten eine halbe Stunde, das war ihr Tag. Dann verstummten sie und sanken
um, und der Mond ruderte hastig über das Firmament, weil auf der anderen Seite
schon wieder die Sonne herankeuchte. Immer langsamer würde er werden. Der
Wechsel von Tag und Nacht schließlich nur noch ein Flimmern, und endlich, weil
sie ihn ja für tot hielten, sein Begräbnis! John sog die Luft ein und hielt den
Atem an.
    Die Krankheit wurde ernster, mit heftigem Leibschneiden. Der Körper
warf heraus, was er eben hatte. Der Geist wurde dämmrig. Die Uhr von St. James,
er sah sie durchs Fenster, konnte John nichts mehr sagen, wie sollte er sich
noch mit einer Uhr zusammenbringen? Um halb elf war es wieder zehn, jeder Abend
war wieder der Abend zuvor. Wenn er jetzt starb, war es wieder wie vor der
Geburt, er war nicht gewesen.
    Fiebrig war er wie ein Ofen. Senfpflaster wurden aufgelegt, Tee von
Königskerzen und Leinsamen eingeflößt, dazwischen schluckte er Gerstenschleim.
Der Doktor befahl, die anderen Kinder gut fernzuhalten. Sie sollten Johannis-
und Heidelbeeren essen, das helfe gegen die Ansteckung. Alle vier Stunden
wanderte ein Löffel mit einem Pulver aus Columbowurzel, Kaskarillenrinde und
getrocknetem Rhabarber über Johns Lippen.
    Krankheit war keine schlechte Methode, um den Überblick
wiederzugewinnen. Besucher kamen ans Bett: Vater, Großvater, dann Tante Eliza,
schließlich Matthew, der Seemann. Mutter war fast ständig da, stumm und ungeschickt,
aber nie hilflos und immer friedlich, als wüßte sie sicher, daß alles doch noch
gut werden würde. Ihr waren alle überlegen, und sie brauchten sie doch. Vater
siegte, und immer ganz unnütz. Er war immer oben, zumal beim Reden, und sogar
wenn er Freundliches sagen wollte: »Nicht mehr lange, und du bist auf der
Schule in Louth. Da wirst du einen Casum setzen lernen, das werden sie dir
einbleuen und anderes mehr.« Geschützt durch Krankheit studierte John, was
sonst noch alles kam. Großvater war schwerhörig. Jeden, der lispelte oder
nuschelte, betrachtete er als Herausforderer. Ein Verräter war, wer es wagte,
einen Nuschler zu verstehen: »Dadurch gewöhnt er sich’s ja an!« Während dieses
Vortrags durfte John die Taschenuhr sehen. Auf dem reichbemalten Zifferblatt
trug sie einen Bibelspruch, der mit »Selig sind …« anfing, es war eine
verzwickte Schrift. Als Junge, erzählte Großvater unterdessen, sei er von zu
Hause fortgelaufen zur Küste. Auch er sei wieder eingefangen worden. Der
Bericht endete so plötzlich, wie er angefangen hatte. Großvater befühlte Johns
Stirn und ging.
    Tante Eliza schilderte ihre Reise von Theddlethorpe-All-Saints, wo
sie wohnte, bis nach Spilsby, eine Fahrt, auf der sie nichts gesehen hatte.
Ihre Rede ging dennoch fort und fort wie eine ausrauschende Drachenschnur. An
Tante Eliza konnte man lernen, daß bei allzu schnellen Reden der Inhalt oft so
überflüssig war wie die Schnelligkeit. John schloß die Augen. Als die Tante das
endlich merkte, ging sie übertrieben leise und etwas gekränkt hinaus. Anderntags
kam Matthew. Er sprach vernünftig und machte Pausen. Er behauptete keineswegs,
daß auf See alles sehr schnell gehen müsse. Er sagte nur: »Auf einem Schiff muß
man klettern können und vieles auswendig lernen.« Matthew hatte
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