Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit
Autoren: Sten Nadolny
Vom Netzwerk:
faltete,
um es zu versiegeln – das zu sehen hielt keiner aus.
    In der Schule ein anderer zu werden, das war schwer. Hier war es wie
in Spilsby: sie kannten seine Schwäche, keiner glaubte an seine Übungen, alle
waren nur davon überzeugt, daß er immer so bleiben würde, wie er war.
    Mit anderen Schülern umgehen lernen. Auch auf einem Schiff
würde er es mit einer Menge von Leuten zu tun haben, und wenn zu viele ihn
nicht mochten, wurde es mühsam.
    Die Schüler waren mit allem rasch fertig und merkten sofort, wenn
einer nachklappte. Namen nannten sie stets nur einmal. Fragte er nach, dann
buchstabierten sie. Beim schnellen Buchstabieren kam er schlechter mit als beim
langsamen Sprechen. Die Ungeduld der anderen aushalten. Charles Tennyson,
Robert Cracroft, Atkinson und Hopkinson, die wetzten an John ihre Schnäbel, wo
es ging. Ihm schien es, als sähen sie ihn immer nur mit einem Auge an. Mit dem
jeweils anderen verständigten sie sich untereinander. Sagte er etwas, dann
legten sie den Kopf schief, das hieß: »Du langweilst, komm endlich zum Schluß!«
Die schwierigste Aufgabe war nach wie vor Tom Barker. Gab man ihm, was er
verlangte, dann tat er, als habe er ganz anderes verlangt. Wer zu ihm sprach,
wurde sofort unterbrochen, wer ihn ansah, stieß auf eine Grimasse. Im
Schlafsaal mußten John und Tom nebeneinanderliegen, weil sie beide aus Spilsby
kamen. Sie teilten sich die Truhe zwischen ihren Betten. Jeder sah, was der andere
hatte. Vielleicht eine gute Vorbereitung auf die Seefahrt, da ging es auch eng
zu, und manche konnten sich nicht leiden.
    Nichts konnte John elend machen, seine Hoffnung war die eines
Riesen. Über Hindernisse, die er nicht besiegen konnte, sah er einfach hinweg.
Meistens wußte er sich aber zu helfen. Er hatte an die hundert Redewendungen auswendig
gelernt, sie lagen bereit und nützten sehr, denn ihre Geläufigkeit gab manchem
Zuhörer den Mut, noch ein wenig zu warten, bis John zum Kern seiner Antwort kam.
»Wenn du so willst«, »zuviel der Ehre« oder »das ergibt sich aus der Sache
selbst«, »vielen Dank für die Bemühung« – das ließ sich schnell hersagen. Auch
die Admirale konnte er schon flüssig. Es wurde viel von Siegen geredet, da
wollte er Admiralsnamen sofort erkennen und ergänzen können.
    Und Gespräche wollte er führen lernen. Er hörte ohnehin gern zu und
freute sich, wenn die eingefangenen Bruchstücke einen Sinn ergaben. Mit Tricks
war er vorsichtig. Einfach ja sagen und so tun, als habe er verstanden, das bewährte
sich nicht. Allzuoft wurde von einem, der ja gesagt hatte, irgend etwas
erwartet. Sagte er aber nein, dann fielen sie erst recht über ihn her: Warum
nein? Begründung! Grundloses Nein war noch schneller entlarvt als grundloses
ja.
    Ãœberreden will ich niemanden, dachte er. Wenn die anderen nur mich
nicht überreden. Sie sollen mich fragen und gespannt auf meine Antwort warten.
Dahin muß ich es bringen, das ist alles.
    Der Baum. Der Weg dorthin führte durch die
Evangeliumsgasse und dann durch eine Straße, die Das gebrochene Genick hieß.
Durch Klettern wurde er nicht schneller, das wußte er inzwischen. Aber damit
war der Baum nicht unnütz. Von Ast zu Ast ließ sich zusammenhängend nachdenken,
viel besser als zu ebener Erde. Wenn er fest schnaufen mußte, sah er eine
Ordnung in den Dingen.
    Von oben war die Stadt Louth zu überblicken: rote Ziegel, weiße
Simse und zehnmal mehr Kaminröhren als in Spilsby. Die Häuser sahen allesamt
der Schule ähnlich, nur schienen sie geschrumpft. Auch fehlte ihnen der zugemauerte
Hof und die Rasenfläche. Die Schule hatte drei hohe, eckige Schornsteine, als
sollte drinnen was geschmiedet werden. Gehämmert wurde genug.
    Der »Tag der Korrektur«. Es gab zwei, den Stocktag und den
Rutentag. Konnte eine Pflanze in Freiheit so wachsen, daß ein Rohrstock daraus
wurde? Seltsam war auch, daß es so viele Bezeichnungen gab, wenn es ums
Bestrafen ging. Der Kopf hieß Rübe oder Poetenkasten, der Hintern Register, die
Ohren Löffel, die Hände Tatzen und die zu Bestrafenden Malefaktoren. John hatte
mit gebräuchlichen Wörtern schon genug zu tun. Ihm schienen diese zusätzlichen
Vokabeln verschwendet.
    Die Strafe selbst ignorierte er. Den Mund geschlossen, den Blick auf
die ferne Welt gerichtet, so überstand man alle Tage der Korrektur. Schmählich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher