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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit
Autoren: Sten Nadolny
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Geschwister angesehen, als er
hineinkletterte, denn sie waren ungeduldig, und sie waren nicht gern seine
Geschwister. John wußte, daß er seltsam aussah, wenn er etwas in Eile tat.
Schon wegen der weit aufgerissenen Augen. Für ihn konnte sich der Türgriff
plötzlich in eine Radspeiche oder in den Schwanz eines Pferdes verwandeln. Die
Zunge im Mundwinkel, die Stirn gespannt, der Atem keuchend, und die anderen
sagten: »Er buchstabiert wieder!« So nannten sie seine Bewegungen, Vater selbst
hatte den Ausdruck aufgebracht.
    Er schaute zu langsam. Blind sähe es besser aus. Er hatte eine Idee!
Er stieg wieder hinunter, legte sich auf den Rücken und lernte die ganze Ulme
auswendig, jeden Ast, jeden Handgriff von unten her. Dann band er sich einen
Strumpf ums Gesicht, tastete nach dem untersten Ast und bewegte seine Glieder
aus dem Kopf, während er laut zählte. Die Methode war gut, aber etwas
gefährlich. Er beherrschte seinen Baum doch noch nicht, es passierten Fehler.
Er nahm sich vor, so schnell zu werden, daß der Mund mit dem Zählen nicht mitkam.
    Fünf Stunden nach Mittag. Er saß keuchend und schwitzend in der
Astgabel und schob den Strumpf in die Stirn hinauf. Keine Zeit verlieren, nur
etwas verschnaufen! Der schnellste Mann der Welt würde er bald sein, sich aber
noch listig verstellen, als habe sich nichts geändert. Zum Schein würde er
immer noch träg hören, zäh sprechen, das Gehen buchstabieren und überall
kümmerlich nachklappen. Aber dann käme eine öffentliche Vorführung: »Keiner ist
schneller als John Franklin«. Auf dem Pferdemarkt in Horncastle würde er ein
Zelt aufstellen lassen. Alle würden kommen, um richtig über ihn zu lachen, die
Barkers aus Spilsby, die Tennysons aus Market Rasen, der sauergesichtige
Apotheker Flinders aus Donington, die Cracrofts – eben alle von heute morgen!
Er würde zunächst zeigen, daß er dem schnellsten Sprecher folgen konnte, auch
bei völlig ungebräuchlichen Wendungen, und dann würde er so schnell antworten,
daß keiner ein Wort verstand. Mit Spielkarten und Bällen würde er umgehen, daß
allen die Augen flimmerten. John memorierte noch einmal die Äste und kletterte
hinunter. Den letzten Halt verfehlte er und fiel. Er zog die Augenbinde hoch:
immer das rechte Knie!
    Heute mittag hatte Vater von einem Diktator in Frankreich
gesprochen. Der sei gestürzt und habe den Kopf verloren. Wenn Vater viel Luther
und Calvin getrunken hatte, verstand John gut, was er sagte. Auch sein Gang war
dann anders, so als befürchte er ein plötzliches Nachgeben der Erde oder
Änderungen der Witterung. Was ein Diktator war, mußte John noch herausfinden.
Wenn er ein Wort verstanden hatte, wollte er auch wissen, was es hieß. Luther
und Calvin, das waren Bier und Genever.
    Er stand auf. Jetzt wollte er Ballspielen üben. Binnen einer Stunde
wollte er den Ball gegen eine Wand werfen und wieder auffangen können. Aber
eine Stunde später hatte er den Ball kein einziges Mal gefangen, sondern Prügel
bezogen und ganz neue Entschlüsse gefaßt. Er hockte auf der Schwelle des
Franklinhauses und dachte angestrengt nach.
    Das Ballfangen hätte er fast geschafft, denn er hatte ein
Hilfsmittel erfunden: den starren Blick. Er sah nicht etwa dem Ball nach, wie
er hochstieg und niedersauste, sondern blieb mit dem Auge auf einer bestimmten
Stelle der Mauer. Er wußte: den Ball fing er nicht, wenn er ihm folgte, sondern
nur, wenn er ihm auflauerte. Einige Male wäre der Ball beinahe in die Falle
gegangen, aber dann kam ein Unglück nach dem anderen. Zunächst hörte er das
Wort »Zahnlücke« – so hieß er seit gestern. Tom und die anderen waren da und
wollten nur mal zuschauen. Dann das Lächelspiel. Wenn man John anlächelte,
mußte er zurücklächeln, er konnte es nicht unterdrücken. Auch wenn man ihn
unterdessen an den Haaren zog oder gegen das Schienbein trat, er wurde das
Lächeln so schnell nicht los. Daran hatte Tom seinen Spaß, und Sherard konnte
nichts ändern. Dann stahlen sie den Ball.
    In der überdachten Passage neben dem Franklinhaus war Lärm verboten.
Das Geschrei rief Mutter Hannah herbei, die um Vaters Laune besorgt war. Den
Gegnern fiel auf, daß sie fast ebenso ging und redete wie John. Auch sie konnte
nicht wütend werden, und das ließ Widersacher frech werden. Mutter verlangte
den Ball, und man
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