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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit
Autoren: Sten Nadolny
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eine
Hobelbank«, rief einer, vielleicht Sherard, »wenn er einen packt, dann hält er
ihn fest!« Aber eine Hobelbank kriegt keinen, der sich dünn macht. Es wurde
langweilig.
    Tom ging einfach weg, hoheitsvoll und nicht zu rasch, von John
gefolgt, soweit die Schnur reichte. Dann gingen die anderen. Sherard sagte noch
tröstend: »Tom hat Angst gekriegt!«
    Die Nase war verkrustet und schmerzte. Zwischen Daumen und
Zeigefinger hielt er den Milchzahn, nach dem die Zunge in der Lücke noch
vergebens tastete. Der Kittel war blutig. »Guten Tag, Mr. Walker!« Der alte
Walker war längst vorüber, als John das herausbrachte.
    Im Auge hatte er jetzt wieder eine interessante Schliere, wenn er
sie ansehen wollte, wich sie aus. Guckte er aber weg, rückte sie nach. Dieses
Hin- und Herrücken mußte die Art sein, wie das Auge sich überhaupt bewegte. Es
sprang von Punkt zu Punkt, aber nach welcher Regel? John legte einen Finger auf
das geschlossene Lid des rechten Auges und durchforschte mit dem linken die
High Street von Spilsby. Er spürte, wie das Auge weiterzuckte, immer Neues
erfassend, zuletzt den Vater am Fenster, und der sagte: »Da kommt ja der
Schwachkopf!« Vielleicht hatte er recht: Johns Hemd war zerrissen, sein Knie
aufgeschunden, der Kittel voll Blut, und er stand vor dem Marktkreuz, glotzte
und befühlte sein Auge. Das mußte Vater kränken. »Deiner Mutter das anzutun!«
hörte John, und dann kamen schon die Prügel. »Tut weh!« stellte John fest, denn
der Vater mußte ja wissen, ob seine Anstrengungen Erfolg hatten. Der Vater
meinte, er müsse seinen Jüngsten ordentlich verdreschen, damit er aufwache. Wer
nicht kämpfen und sich nicht ernähren konnte, fiel der Gemeinde zur Last, das
sah man an Sherards Eltern, und die waren nicht einmal langsam. Vielleicht
Spinnarbeit, vielleicht mit krummem Rücken auf dem Feld. Vater hatte sicher
recht.
    Im Bett sortierte John die Schmerzen des Tages. Er liebte die Ruhe,
aber man mußte eben auch das Eilige tun können. Wenn er nicht mitkam, lief
alles gegen ihn. Er mußte also aufholen. John setzte sich im Bett auf, legte
die Hände auf die Knie und wühlte mit der Zunge in der Zahnwunde, um besser
nachdenken zu können. Er mußte jetzt Schnelligkeit studieren wie andere Menschen
die Bibel oder die Spuren des Wildes. Eines Tages würde er schneller sein als
alle, die ihm jetzt noch überlegen waren. Ich möchte richtig rasen können,
dachte er, ich möchte sein wie die Sonne, die zieht nur scheinbar langsam über
den Himmel! Ihre Strahlen sind schnell wie ein Blick des Auges, sie erreichen
frühmorgens auf einen Schlag die fernsten Berge. »Schnell wie die Sonne!« sagte
er laut und ließ sich in die Kissen zurückfallen.
    Im Traum sah er Peregrin Bertie, den steinernen Lord von Willoughby.
Der hielt Tom Barker fest gepackt, damit er John zuhören mußte. Tom kam nicht
frei, seine Raschheit reichte nur für ein paar winzige Bewegungen. John sah ihm
eine Weile zu und überlegte sich immer wieder von neuem, was er ihm sagen
könnte.

Zweites Kapitel
    Der Zehnjährige und die Küste
    Woran lag es? Vielleicht war es eine Art Kälte. Menschen
und Tiere wurden starr, wenn sie froren. Oder es war wie bei den Leuten aus Ing
Ming, die Hunger hatten. Er bewegte sich stockend, also fehlte ihm irgendeine
besondere Nahrung. Er mußte sie finden und essen. John saß, während er das
dachte, oben im Baum neben der Straße nach Partney. Die Sonne beschien Spilsbys
Kaminröhren, und die Uhr von St. James, eben nachgestellt, zeigte vier Stunden
nach Mittag. Große Tiere, dachte John, bewegen sich langsamer als Mäuse oder
Wespen. Vielleicht war er ein heimlicher Riese. Scheinbar war er klein wie die
anderen, aber er tat gut daran, sich vorsichtig zu bewegen, um niemanden
totzutreten.
    Er stieg wieder hinunter und wieder hinauf. Es ging wirklich zu
langsam: die Hand griff nach dem Ast und fand Halt. Jetzt hätte er aber schon
längst den nächsten Ast im Blick haben müssen. Was tat das Auge? Es blieb bei
der Hand. Es lag also am Schauen. Den Baum kannte er schon sehr gut, aber
schneller ging es trotzdem nicht. Seine Augen ließen sich nicht hetzen.
    Wieder saß er in der Astgabel. Viertel nach vier. Er hatte ja Zeit.
Ihn suchte keiner, höchstens Sherard, und der fand ihn nicht. Heute morgen die
Kutsche! Mit starrem Blick hatten ihn die
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