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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit
Autoren: Sten Nadolny
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eilte nicht vom Eßtisch zum Lexikon und zurück, nein, er ließ das Essen
in Ruhe kalt werden. Ich bin sicher, daß dieser stoisch-nachdenkliche
Großvater, der heiteren Gemüts an seinen immer etwas melancholischen Bildern so
lang malte, bis sie fertig und gut waren, mir später beim Beschreiben der
Gangart und der Weisheit des älteren Franklin mehr vor Augen stand als mein
Vater. Aber hätte dieser so alt werden dürfen wie Alexander Peltzer, er wäre
ihm wohl ein kleines bißchen ähnlich geworden.
    Auch wenn es so scheint: es ist keineswegs so, daß ich das späte
Nachwort zu diesem Roman benutze, um mich in Erinnerungen zu ergehen und
vielleicht sogar dem irgendwann Achtzigjährigen das Memoirenschreiben zu
ersparen. Ich möchte aufzählen, was und wer zur »Entdeckung der Langsamkeit«
beigetragen hat, und damit zugleich generell mitteilen, wie lang sich Bücher im
Leben von Autoren vorbereiten. Denn darin sind weder dieses Buch noch sein
Autor einzigartig. Das Leben selbst schreibt bekanntlich keine Geschichten, es
schreibt nur mit, und zwar nicht nur, indem es dem Autor von außen Storys
liefert, sondern auch, indem es ihn (unter dem Namen »Vita«) mit Erfahrung
ausstattet, beängstigt, demütigt, langweilt, herausfordert und beglückt, es
läßt nichts aus.
    Ich hoffe mein Nachwort nun endgültig gerechtfertigt zu haben und
komme zum Phänomen »1968«, dessen Aufbruchsstimmung sich für mich mehr mit 1967
verbindet, während ich ein Jahr später nur noch verzweifelt versuchte, das
Seufzen meiner bürgerlichen Vernunft zu ignorieren. Während ich noch trotzig
behauptete, die »Revolution« (mit-) machen zu wollen, öffnete sie mir Augen und
Ohren für das, was da wirklich vorging: Selbstbetrug, posenhafte
Selbstdarstellung, Hysterie, Diffamierung der Nachdenklichkeit und eines jeden,
der noch in seiner eigenen Sprache zu sprechen wagte. Der Typus
»Studentenführer« wurde mir langsam, aber unaufhaltsam verächtlich, weil diese
Art von Protagonistentum mit verantworteter Führung nichts zu tun hatte. Aber
das gestand ich mir noch nicht ein. »1968« war die kurze Zeit meines Lebens, in
der ich John Franklin als »irrelevant« verabschiedete, und die Vernunft, das
gute Tier, beschloß bei ihm zu bleiben und nur mit ihm zusammen zurückzukehren.
Was ich aber erlebt, gesehen und vor allem gehört habe, blieb mir erhalten, und
ich meine, daß Figuren wie der Lehrer Burnaby, die Revolutionärin und matte
Freundin Flora Reed sowie der Sekretär Maconochie (»Ich, ich, ich« entgegnet
ihm John Franklin) davon mehr profitiert haben als den historischen Personen
lieb sein kann – Moment, ich korrigiere: Flora Reed ist ohnehin erfunden.
    Die Revolution, daran gescheitert, daß sie sich nur phantasiert
hatte und zweifellos auch nur phantasieren konnte, ging nun wie süchtig ins
Kino. Auch revolutionäre Kleindarsteller mit intellektuellen Phantomschmerzen,
die in einer Psychotherapie gelandet waren (ich war so einer), taten dies
ausgiebig. Nachdem ich mir das Leben mit Romanen völlig abgewöhnt hatte und nur
noch die (in der Regel schnell und schlecht geschriebenen) Sachbücher der
beginnenden siebziger Jahre las, war es das Kino, das uns in die Welt der Geschichten
zurückholte. Man kann es auch umgekehrt ausdrücken: Die wieder bescheidener und
nachdenklicher werdende Generation holte das Kino zurück. Sie drehte die Filme,
sorgte für Besucherzahlen, das Kino war ein richtiger Trost, zumal es nach ’68
deutlich entschnulzt war – bis auf ein paar erratische Linksschnulzen.
    Die Produktion dicker Romane ist als Ergebnis gescheiterter
Revolutionen geläufig. Ich glaube dennoch nicht, daß ich damit angefangen
hätte, aus meiner »Franklinforschung« doch noch einen Roman zu machen, wenn
mich nicht das Kino dazu ermutigt hatte. Bestimmt nicht ein einzelner besonders
guter Film, aber das Handwerk des Erzählens in bewegten Bildern überhaupt, mit
dramaturgisch begründeter Beschleunigung und Verlangsamung. Warum nicht einfach
aufschreiben, was ich sah, hörte, fühlte und dachte, eines nach dem anderen,
wie es kam, und erst dann ein wenig daran herumzupfen, hier beschleunigen, da
verlangsamen? Eine frühe Übung dieser Art begann als Eisenbahn-Tagebuch und
endete als mein allererstes Buch, »Netzkarte«, und ich halte es in Ehren.
    Ich
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