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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit
Autoren: Sten Nadolny
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Marinekarriere des neunzehnten
Jahrhunderts. Ich sagte zu meiner Mutter: »Jetzt weiß ich, wie ich ihn zinken
kann!« Sie wußte, was ich meinte. Bei Gesprächen über Stoffe und Figuren hatte
sich dieser Begriff aus dem Kartenspiel, besser gesagt aus dem Falschspiel,
angeboten: Man stattet etwa eine Nebenfigur gleich bei der Einführung mit einer
besonders langen Nase aus, und wenn dieser Mensch irgendwann wieder vorkommt,
schreibt man beispielsweise: »… und dabei zupfte er an seiner Nase, als wäre
sie nicht schon lang genug«. Aber bei einer Hauptfigur? Mein Vater hat sich
einmal an der Geschichte von einem Mann versucht, der mit zwei Metern zehn ein
Riese war und davon Vor- und Nachteile hatte, auf jeden Fall aber für jedermann
etwas Besonderes war, und das hatte seinen Lebenslauf geprägt. Mein Vater hat
das Projekt aufgegeben. Die schiere Körpergröße eines Menschen erzeugt keine
haltbare Faszination, die Figur wurde binnen weniger Seiten langweilig.
Außerdem kam der Phantasie des Autors ein treuer Freund in die Quere, der
tatsächlich so lang war – und leider langweilig.
    Vom »Zinken« der Figur John Franklin, also von der Stilisierung
seiner »Langsamkeit«, erzählte ich meiner Mutter während einer schauderhaften
Autobahnfahrt im Regen, die Scheibenwischer tobten im Schnellgang, es war nicht
der richtige Moment, um mein Vorhaben zu erläutern. Außerdem glaubte meine
Mutter jederzeit zu fürsorglichem Pessimismus verpflichtet zu sein: »Wer wird
denn lesen wollen, daß da einer für alles zu langsam ist?« Und natürlich
zitierte sie Lüddecke: »Ich seh’ die Kurve nicht.« Vermutlich war ihr einfach
bang zumute. Sie hatte einen Schriftsteller geheiratet, der mit seinen wunderschönen
Konstrukten nicht recht landete, nun fing ihr Sohn auch noch so an! Aber sie
wäre nicht meine Mutter gewesen (und auch nicht die sichere Schriftstellerin),
wenn sie bei dieser Ablehnung lange geblieben wäre. Wir haben in den folgenden
Jahren unendlich viel über mein Projekt gesprochen. Ihr war sehr klar, was ich
da tat, und klarer als mir: Ich nahm meinen Franklin auseinander und setzte ihn
nach einer Art Bauplan, anhand eines »Themas«, wieder zusammen. Sie hatte das,
viel weniger rigoros allerdings, mit ihrer eigenen Familie getan, und
literarisch war das alles legitim. Aber sie wußte, daß ich dabei war, meinen
Franklin, indem ich ihn zur Romanfigur machte, zu verlieren. Sie wußte auch,
daß das eine Art von Teufelspakt war, der möglicherweise sogar Erfolg
versprach. Sie wußte es aus Erfahrung, ich noch nicht. Ich saß also und schrieb
an einem Buch, das nicht nur das Leben des geliebten Franklin enthielt, sondern
auch, das ahnte ich, mein eigenes. Die Langsamkeit, zunächst nur ein Notnagel,
ein Trick, um der Welt das Leben und Sterben Sir John Franklins schmackhaft zu
machen, erwies sich als glücklicher Griff: Sie passte durchaus zu dem, was der
historische Franklin getan, gesagt und geschrieben hatte, ich konnte mir
einreden, ihm nicht untreu geworden zu sein. Das Thema Langsamkeit konnte als
Blickrichtung vieles mit transportieren, was ich beobachtet oder auch erlitten
hatte. Hin und wieder befiel mich aber ein böses Wachsein: Was tat ich da eigentlich?
Weder Historiker noch Kafka, kostümierte ich meinen geliebten John Franklin als
interessanten Halbbehinderten und zerrte ihn in eine Diskussionsrunde. Was
würde er selbst dazu sagen? Vielleicht den Kopf schütteln und etwas verkniffen
dreinlächeln wie mein Vater, wenn an einer Katastrophe rein gar nichts mehr zu
ändern war.
    Die Selbstzweifel, genauer gesagt Wahrheiten, verfolgten mich
nachts. Ich lag wach und fürchtete, ich würde schon bald verzweifelt alles
hinwerfen – und ich wußte ja damals noch nicht, wieviel Scheitern ein Mensch
überleben kann. Am hellen Tag hingegen verfuhr ich nach Karl Valentins Devise:
»Man soll die Dinge nicht so tragisch nehmen, wie sie sind.« Angst beflügelt
das Schreiben, wenn sie, das allerdings sollte sein, gerade eben ein wenig nachzulassen
beginnt (nicht zu sehr). Und auch Depressionen bringen manchmal Gutes zustande.
Zum einen all die Strohhalme, nach denen der Autor greift, um nicht sofort
unterzugehen, sondern erst später – er setzt sich dann hin und macht aus seinem
Problem das der Hauptfigur, das bedeutet etwas Aufschub. Ferner lassen
Angstzustände
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