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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit
Autoren: Sten Nadolny
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beliebter Seemann
ganz bestimmt, das wußte ich, sonst hätten nach dem Verschwundenen nicht so
viele gesucht. Obwohl ich alle deutschen Bücher las, in denen ich etwas über
ihn zu finden hoffte, kannte ich doch nur die äußeren Daten seiner Karriere.
Den Rest phantasierte ich dazu. Ich erzählte allen Freunden von diesem Mann,
auch den armen Mädchen, in die ich mich verliebte – an meinem Sir John kam
keine vorbei. Erst viel später habe ich in London englische Bücher zu fassen
bekommen, die ihn, seine beiden Ehefrauen und seine Freunde genauer
schilderten, las seine Reiseberichte und die der Kapitäne, die nach ihm gesucht
hatten. Aber schon, als ich noch wenig wußte, war ich sicher, daß John Franklin
Ähnlichkeiten mit meinem Vater hatte. Der war geduldig, freundlich, fleißig und
zuversichtlich, aber allzu oft vom Pech verfolgt und letztlich kein strahlender
Sieger. Für seinen Schriftstellerberuf war er mit Phantasie, Sprachgefühl und
intellektuellem Anspruch bestens ausgestattet. Erst gegen Ende der fünfziger
Jahre bekam er, weil ihm der Durchbruch und nennenswerte finanzielle Erfolge
versagt blieben, hinter seinen optimistischen und begeisterten Bekundungen
etwas Müdes, Resigniertes – nur wer ihn gut kannte, merkte es überhaupt. Er war
tapfer. Selbstmitleid lag ihm nicht.
    Meine Eltern waren trotz aller Geldnot freudige Gastgeber, und das
klein wirkende Holzhaus, übrigens hellhörig wie eine Fregatte bei totaler
Flaute, konnte mehr Gäste beherbergen, als man ihm zutraute. Nicht alle Onkel
und Tanten gefielen mir gleich gut, aber ich war zu derart einfühlsamer Höflichkeit
erzogen, daß jeder sich von mir ganz besonders geliebt fühlte (eine meiner
Stärken bis heute, leider auch ein gewisses Problem). Interessant waren mir die
Künstlerkollegen meines Vaters, nicht weil ich etwa Schriftsteller werden
wollte, sondern weil ich vergleichen konnte: Was hatten sie, die
Schriftsteller, Maler, Komponisten, das mein Vater nicht hatte? Sie alle lebten
von ihren Einfällen, versuchten zu überraschen und zu fesseln, erst Geldgeber
und dann ein Publikum. Jeder tat das anders, und jeder schien mir besser
»anzukommen« als mein Vater, von dem ich doch wußte, daß er der beste war.
    Da war Werner Jörg Lüddecke, ein ehemaliger Seeoffizier und
Blockadebrecher, den man kurz vor Kriegsende wegen seiner jüdischen Ahnen
degradiert hatte. Er konnte schriftlich wie mündlich jederzeit eine
Männergeschichte aus den sieben Weltmeeren erzählen, auf rauhbeinige Weise
pointiert und amüsant, und er war ein glänzender Konstrukteur von Handlungen.
Einmal, als mein Vater ihm einen neuen Stoff geschildert hatte, sog er an der
Pfeife, schwieg lange und sagte dann: »Ich seh’ die Kurve nicht«. Ich lernte,
nicht nur an diesem Fall, daß Freundschaft nicht darin bestand, alles fabelhaft
zu nennen, was vom anderen kam. Als Teenager liebte ich Lüddeckes
Geschichtenband »Hokuspokus im Busch«, insbesondere die Geschichte »Lodström
stirbt an der Liebe«. Später las ich mit brennenden Augen seinen Roman
»Schatten«, in welchem er seine ungeheure Wut herausließ. Er schilderte, mit
vorzüglichem Gehör für Dialoge, das Elend der Kriegs- und Nachkriegsjahre, das
er in Hamburg erlebt hatte, die häßlichen Seiten des menschlichen
Überlebenswillens, den Schwarzhandel und die Selbstdarstellung von Nazis, die
stets nur versucht hatten, das Schlimmste zu verhindern. Sein berühmtestes Buch
ist »Morituri«, das mit Marlon Brando und Yul Brynner verfilmt wurde. Lüddecke
schrieb Drehbücher für Wolfgang Staudte, Robert Siodmak und andere, sein bester
Film war »Nachts, wenn der Teufel kam«, gefolgt von »Der zwanzigste Juli«.
Leute wie er beherrschten noch die Typologie und den »Sound« der Nazizeit.
    Ein anderer häufiger Gast war Horst Mönnich, ein wuchtiger Mann von
großer Arbeitskraft und Gründlichkeit, langsam erzählend und durch nichts
beirrbar, ich mochte ihn genau deswegen, und wegen seiner durchdachten,
überzeugenden Hörspiele – ein guter Menschenkenner und auch Selbstkenner.
    Geschützt durch Jugend, eingehüllt in das Wohlwollen, das ich
spürte, beriet ich beginnende Berufsvorstellungen mit Dr. med. Curt Emmerich,
der als »Peter Bamm« den Roman »Die unsichtbare Flagge« geschrieben hatte und
im Freundeskreis
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