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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit
Autoren: Sten Nadolny
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Geschichte erzählt hat. Er
kann zum Störenfried werden, wenn er sich nun doch neben seinem Buch aufbaut,
um es zu kommentieren oder zu bewerten.
    Im Eisenbahnabteil kann es passieren (und ist passiert), daß jemand
ein Buch zuende liest und heim Zuklappen einen bohrenden Blick spürt, weil ihm
gegenüber niemand anders als der Autor sitzt. Gäbe dieser sich zu erkennen,
dann würde der Leser ihm wohl nicht Fragen stellen, sondern eher freiweg seinen
Eindruck schildern. Nur eine Frage hätte er bestimmt: Wie der Autor denn an
diese Geschichte geraten sei. »Wie sind Sie auf John Franklin gekommen?« In all
den Lesungen, den Briefen seit 1983 war dies die am häufigsten gestellte Frage.
Und sie beantworte ich gern, dazu auch die zu Unrecht belächelte Frage: »Warum
schreiben Sie?« oder »Wie sind Sie ans Schreiben gekommen?«, was ziemlich auf
das Gleiche hinausläuft. Auf diese Fragen gibt es etwas zu erzählen, manches zu
verschweigen (oder auch nicht), und ich muß mich dazu nicht in die literarische
Landschaft einordnen oder Selbstkritik üben wie nach einer Lehramtsprüfung.
    Daß John Franklin in meinem Leben eine Rolle spielen würde, bahnte
sich an, noch bevor ich seinen Namen kannte. Ich bin am Ostufer des Chiemsees
aufgewachsen und entwickelte mit dreizehn eine Leidenschaft für die Erforschung
von Küstenlinien. Mit dem Paddel- oder Ruderboot war immerhin das Delta der
Tiroler Ache zu erreichen, das heutige Vogelschutzgebiet, das von den anderen
Buben »Afrika« genannt wurde, weil am dortigen Strand Freikörperkultur stattfand.
Dafür zeigte ich wenig Interesse, ich hatte Wichtigeres zu tun, zeichnete
Flußarme und Sandbänke in Karten ein und fühlte mich als Geograph. Bei
Regenwetter saß ich über Stielers Großem Handatlas und träumte mich in die
Karte von Kanada hinein. Daß sie aus dem vorigen Jahrhundert war, störte mich
nicht. Ich wollte nach Kanada auswandern wie mein bester Freund aus der
Volksschulzeit, der nun mit seinen Eltern in London, Ontario, wohnte – meine
Kanadabegeisterung hatte so ihren Anfang genommen, und er schrieb mir ja auch
Briefe. Mit dem Vergrößerungsglas vor dem Auge merkte ich mir jede Bucht des
Großen Bären-, Großen Sklaven- oder Athabaskasees, konnte bald die Biegungen des
Mackenzie und des Großen Fischflusses sowie den gesamten arktischen
Küstenverlauf aus dem Kopf zeichnen und tat dies regelmäßig während der
Unterrichtsstunden. Ich trug die englischen, französischen und indianischen
Ortsbezeichnungen ein, kannte die Jagdgründe der Athabasken, der Algonkin oder
Tlinkit und rätselte über merkwürdige Namen wie »Meta incognita«,«Point
Turnagain« oder »Schwatkas fernster Punkt«. In den Atlanten des neunzehnten
Jahrhunderts stand, wenn die Karte sonst leer genug war, einfach alles. Meine
Lieblingslektüre waren damals alle Bücher, die mit Schiffen zu tun hatten, etwa
»Komm mit an Bord«, eine für Jugendliche zusammengefaßte Geschichte des
Schiffbaus. Dann wurde es immer mehr das Meyersche Konversationslexikon von
1905, in dem ich ständig irgend etwas nachschlug, nicht anders als meine Eltern
und Großeltern. Die gesamte Familie war konversationsstark, neugierig und
selbst beim Mittagessen sprungbereit, wenn Wissensfragen geklärt werden mußten – man knüllte jäh die Serviette neben die Suppe und eilte zum Regal. Ich suchte
im Großen Meyer vor allem nach den auf der Landkarte Kanadas erscheinenden
Personennamen und fand so heraus, daß nahe dem arktischen Festland um 1848 die
Mannschaften der vom Eis eingeschlossenen Schiffen » Erebus «
und » Terror « zugrundegegangen waren, und daß die
nördlich davon gelegene Inselwelt von zahlreichen Kapitänen durchfahren und
kartographiert worden war, während sie nach John Franklin und seinen Leuten
suchten. Da nun fing ich an, mich für den Mann persönlich zu interessieren.
    Unglaublich, was dieser Franklin alles durchgestanden hatte: die
Seeschlachten von Kopenhagen und Trafalgar, Flinders’ australische Reise, einen
fast sicheren Schiffsuntergang im Eismeer und einen gespenstischen Hungermarsch
durch die »Barren Grounds«. Fregattenkapitän im Mittelmeer und Gouverneur in
Tasmanien war er gewesen, nicht immer erfolgreich, weil vielleicht zu gutmütig
und zu friedfertig für diese Welt. Aber ein geachteter und
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