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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit
Autoren: Sten Nadolny
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geräumigere Autos, weitere Reisen als nur
bis zum Gardasee, das Dach wurde mit Ziegeln gedeckt und eine Ölheizung
installiert. Mein Motiv, reich zu werden, verblaßte etwas, jetzt wollte ich
Wirtschaftswissenschaftler werden, vielmehr »Nationalökonom« – das klang
imponierender.
    Nach dem Abitur wurde ich erst einmal Rekrut bei den Fernmeldern,
erlebte das, was ich – immer noch in Franklins Leben zu Hause – als »Elend des
Landkriegs« bezeichnete. Die Kampfausbildung im Gelände am Starnberger See
erschien mir als die Schlacht von New Orleans, zumindest ebenso beschwerlich
und ermüdend. Als Offiziersanwärter, unter dem Einfluß von historisch
interessierten Majoren, begann ich an ein Geschichtsstudium zu denken, und ab
1963 hörte ich in München Vorlesungen von Franz Schnabel, Karl Bosl und dem
wunderbaren Herbert Grundmann. Nebenbei beschäftigte ich mich noch intensiver
mit John Franklin und konnte mir eine wissenschaftliche Biografie vorstellen,
außerdem weiterhin eine Archäologie oder Kriminologie im ewigen Eis: Franklins
Gebeine wollte ich finden, nachdem Leopold McClintock das nicht geschafft und
Amundsen gar nicht erst versucht hatte. In mancher Hinsicht fing ich zwar an,
erwachsen zu werden, aber meine Jugendträume vergingen nicht, und sie waren mit
Sir John Franklin verbunden.
    Sogar mein Verhältnis zu den Eltern drückte sich nach wie vor in dem
aus, was ich »Franklinforschung« nannte. Was ich an ihnen wahrnahm, übertrug
ich auf John und Jane, und was ich über diese herausfand wieder zurück auf die
Eltern, gewiß auch auf der Suche nach Unterschieden, aber das Vergleichen
forderte die Vermutung starker Übereinstimmung. So wurde Franklin zu einem Mann
von kindlicher Begeisterungsfähigkeit, fähig zum Staunen, zur Bewunderung und
zur Freundschaft, etwas zu gutmütig und zu arglos, von anderen immer ein wenig
unterschätzt, aber sehr beliebt – ganz mein Vater. Und vieles davon habe ich ja
auch in den Beschreibungen von Sir Johns Zeitgenossen wiedergefunden. Zugleich
mutierte mein Vater zu einem Gentleman auf der Fahrt ins Unbekannte, einem
umsichtigen Kapitän, auf dessen Schiff man sich gut aufgehoben fühlte.
    Ã„hnlich die Parallelen, die ich zwischen meiner Mutter und Jane zog,
genauer gesagt, ich übertrug ihre Eigenschaften teils auf Eleanor Porden, teils
auf Jane Griffin: sprachversessen, übersensibel, genialisch und manchmal
theatralisch, tief drinnen sentimental, immer sehr hellhörig mit ihrem eigenen
Befinden beschäftigt, aber eben das war das zuverlässigste Meßgerät meiner
Mutter, um Situationen zu erfassen und treffend zu benennen. Sie war
willensstark und geltungshungrig, zugleich sehr harmonie- und schutzbedürftig –
Gegensätze, die nicht immer zu glücklichen Ehen führen, aber in diesem Falle
war es so – und auch im Hause Franklin, da war ich nahezu sicher.
    Ich zweifle nicht daran, daß meine Mutter wie Jane Franklin alles,
aber auch alles geopfert hätte, um meinen Vater – er starb plötzlich im Sommer
1968 – aus dem ewigen Eis zurückzuholen. Ich ebenfalls. Er hat mir – weil er
»malerischer« und viel ruhiger erzählte als meine assoziations- und
pointensichere Mutter – so etwas wie ein männliches Weltbild mitgegeben, ich
lernte aus seinen Geschichten, wovor ein ordentlicher Mann sich im Leben nicht
drückt und welchen Leuten er sich nicht beugt – wenn möglich. Das Weltbild war
ein wenig vergangenheitsselig, es hatte Patina, aber ich fand dann unter meinen
akademischen Lehrern Restauratoren, die es auffrischten, ohne der Substanz zu
schaden, allen voran Hartmut von Hentig.
    Obwohl ich erst viel später anfing, mein Nachdenken über
Geschwindigkeit und Wahrnehmung mit der Person John Franklin zusammenzubringen,
will ich noch etwas zu meinem Großvater mütterlicherseits nachtragen, dem Maler
Alexander Peltzer, der mit Sicherheit dafür gesorgt hat, daß mir Langsamkeit
schon in der Kinderzeit irgendwie ein lieber Begriff war. Er war nicht nur
schwerhörig, sondern auch jedem schnellfertigen Geschwätz und überhaupt jeder
Eile abhold. Beim Malen von Landschaften dürfte das genau das Richtige sein,
sogar Schwerhörigkeit ist möglicherweise von Vorteil. Er wußte viel über die
absonderlichsten Gebiete, weil er ein Leben lang jeder Frage ohne Zeitdruck nachgegangen
war. Er
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