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Die Enklave

Die Enklave

Titel: Die Enklave
Autoren: Michael Ann; Pfingstl Aguirre
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anderen nach zu urteilen, musste sie ziemlich schlimm sein. Mein Blick wanderte zwischen Pirscher und Bleich hin und her, und ich wartete darauf, wer von beiden den Dolch in die Hand nehmen würde. Die Wunde musste verschlossen werden, denn mir drohte dieselbe Gefahr wie Tegan: Infektion und Fieber. Freak-Klauen waren nicht sauber.
    »Ich mach es«, sagte Pirscher und steckte die Klinge ins Feuer.
    Als Nächstes benutzte er das kostbare Wasser, so wie ich es getan hatte, dann verrieb er die Salbe. Sie brannte in der offenen Wunde wie nichts jemals zuvor, wie Flammen als Vorbote der glühenden Klinge. Auf gewisse Weise bereitete sie mich auf das vor, was danach folgte. Ich schloss die Augen, biss die Zähne zusammen und sagte: »Tu es. Gib mir keine Vorwarnung.«
    Er gab mir keine. Der Dolch versengte mich, es fühlte sich an, als würde er sich bis zum Knochen durchbrennen, und der Schmerz überstieg die Grenze dessen, was ich ertragen konnte, so weit, dass ich mir die Lippe blutig biss. Ich schluckte meine Schreie hinunter und klammerte mich mit aller Kraft an mein Jägerherz. Lass nicht zu, dass sie dich schwach sehen , befahl Seide. Dazu habe ich dich nicht ausgebildet. Du warst meine Beste, Zwei. Vergiss das nicht. Niemals.
    In diesem Moment wusste ich, dass ich träumte. Seide
hatte nie etwas dergleichen zu mir gesagt. Sie lobte nie. Sie gab Befehle, verteilte Ohrfeigen und Komplimente, die eigentlich Beleidigungen waren, wie etwa: Wenn du nicht so dämlich wärst, könnte glatt was aus dir werden.
    Als ich meine Augen wieder öffnete, fand ich mich an einem anderen Ort wieder. Kein Feuer mehr. Kein Bleich. Kein Pirscher, keine Tegan. Alles war schwarz und weiß, wie auf einem der vergilbten alten Bilder, die ich in der Bibliothek gesehen hatte.
    Seide stand vor mir und wartete.
    »Du bist nicht tot«, sagte sie.
    Seide hatte ich noch nie etwas vormachen können. Ich lächelte beinahe, weil es guttat, sie zu sehen, auch wenn das bedeutete, dass mein Verstand mich endgültig im Stich gelassen hatte. Sie sah aus wie immer, klein, herrisch und selbstbewusst.
    »Aber ich bin es«, sprach Seide weiter.
    Der Verlust traf mich schwer. Konnte es tatsächlich wahr sein? War die gesamte Enklave ausgerottet? Wenn das stimmte, war ich so allein wie noch nie zuvor in meinem Leben. Ich dachte an Fingerhut, an Stein und an 26. Auch an Zwirn musste ich denken, wollte unbedingt wissen, was mit ihm passiert war. Ich wollte mich an alle erinnern, an jedes verlorene Gesicht, an jedes schiefe Grinsen und jede tollpatschige Geste.
    »Sind die Tunnelbewohner auch tot?«, fragte ich flüsternd.
    »Das weiß ich nicht. Aber du, Zwei, du bist die Letzte von uns. Nur du kannst unsere Geschichte weitergeben.«
    »Was ist mit Bleich?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Er war nie einer von uns. Er ist
ein Zwischenwesen, das immer noch nicht richtig in seine eigene Haut passen will, und das trotz meiner Ausbildung.«
    »Er muss nur seinen Platz finden.«
    Seide ignorierte meine Worte, ihr Gesicht ruhig und ernst. »Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden und dir zu sagen, dass du das Feuer nicht ausgehen lassen darfst.«
    »Was soll das bedeuten?«
    Ich hörte Seide noch einmal flüstern. Lass das Feuer nicht ausgehen . Ich öffnete die Augen und streckte meine Hand nach ihr aus. So viele Fragen . Stattdessen bekamen meine Finger Bleich zu fassen. Eine Weile verschwammen die beiden Welten ineinander, das Schwarz und Weiß und der viel zu helle Tag. Dann verschwand der Traum und ließ nur dieses eine schmerzhafte Echo zurück:
    Ich bin die letzte Jägerin .
    »Die Enklave ist tot«, sagte ich zitternd.
    »Du warst kurz ohnmächtig«, erwiderte Pirscher, der neben mir kniete. »Aber du wirst dich erholen. Du bist ein harter Brocken, Taube.«
    »Weg von ihr«, fauchte Bleich. »Und hör auf, sie so zu nennen!«
    Ich spürte die Spannung in seinem Körper. Bleich hielt mich in den Armen, als hätte er mich gewiegt wie ein kleines Kind. Er musste Angst bekommen haben, als ich ohnmächtig geworden war. Es war erniedrigend, so schwach zu sein.
    Pirscher rührte sich nicht von der Stelle, und die Narben auf seinem Gesicht verzogen sich, als seine Mundwinkel sich zu einem Lächeln nach oben bogen. »Ich glaube, Zwei kann das selbst entscheiden.«
    Wollten sie jetzt um mich kämpfen? Ich hatte viel zu starke
Schmerzen, um mich einzumischen. Ich schob mich von Bleich weg, und die Bewegung jagte mir eine glühende Lanze durch den Bauch. Schließlich
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