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Die Engelsmuehle

Die Engelsmuehle

Titel: Die Engelsmuehle
Autoren: Andreas Gruber
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Der Kameramann betätigte den Zoom. Ein Quietschen ertönte. Dann fuhr eine Frau im Rollstuhl ins Bild. Sie durchquerte den Raum und manövrierte das Gefährt an die Längsseite des Bettes. Mühsam hievte sie sich vom Rollstuhl auf die Bettkante. Hogart schätzte die Frau auf etwas über dreißig Jahre. Sie trug einen Rollkragenpullover, hatte langes brünettes Haar, strahlende Augen und ein gewinnendes Lächeln. Sie war der einzige Lichtblick in diesem Video. In ihren Ohren steckten große Modeschmuckringe und obwohl sie - so viel Hogart in der unscharfen Aufnahme erkennen konnte - ungeschminkt war, wirkte sie erfrischend attraktiv. Die Aufnahme stammte jedenfalls nicht, wie er ursprünglich angenommen hatte, aus den späten Sechzigerjahren. Das hätte auch dem Format der Kassette widersprochen.
    »Linda, Sie sind gut in Form. Versuchen Sie es noch einmal, diesmal auf der anderen Seite«, sagte eine tiefe Stimme unmittelbar in das Mikrofon der Kamera.
    Die Frau kletterte vom Bett in den Rollstuhl, fuhr zu dem anderen Bett und hievte sich auf die höher gelegene Matratze. Die Prozedur dauerte eine knappe Minute. Als ihre Beine schließlich über die Kante baumelten, zog sie ihren Rock bis zu den Knien hinunter.
    »Wo könnte das sein?«, fragte Hogart.
    Kurt zuckte die Achseln. »In einer physiotherapeutischen Anstalt, aber ich kenne keine, die so miserabel …« Er verstummte, als zwei Männer in weißen Kitteln ins Bild kamen.
    Hogart rief sich das Foto vom Titelblatt der Morgenausgabe ins Gedächtnis. »Ist einer davon Ostrovsky?«, fragte er.
    Kurt schüttelte den Kopf.
    Einer der Ärzte notierte einige Daten in das Stammblatt. »Sie machen Fortschritte, Frau Bohmann, aber es gibt noch vieles, das wieder aufgefrischt werden muss.«
    Der zweite Arzt setzte sich ans Fußende des Bettes. »Verfügt die Kunstakademie über eine Rampe?«
    Sie lächelte. »Vermutlich werden sie eine errichten oder man wird mich in den Hörsaal tragen müssen.«
    »Ich würde das übernehmen.«
    »Jeden Tag?«
    »Falls Sie es wünschen.«
    Sie lächelte verlegen. »Was würden Ihre anderen Patienten davon halten, Doktor Dornauer?«
    »Lassen Sie das meine Sorge sein.« Der Arzt erhob sich lächelnd. »Ich würde vorschlagen, wir sehen uns morgen wieder.«
    Das Bild wurde durch ein sekundenlanges Flimmern ersetzt. Die neue Szene offenbarte einen anderen Raum, der aber dem vorhergehenden in puncto Schäbigkeit um nichts nachstand. Dieselben Ärzte, dieselbe Frau, nur dass sie diesmal den Umstieg von einem Rollstuhl in den anderen trainierte. In einer dritten Szene sah Hogart, wie die Frau von einem Rollstuhl in eine Badewanne stieg, wobei die Übung mit Kleidern als Trockentraining durchgeführt wurde, worauf einige Einheiten Krafttraining mit Hanteln unter Anleitung einer Physiotherapeutin folgten. Zuletzt gab es noch zwei Szenen, in denen die Frau mit dem Rollstuhl eine Treppe mit drei Stufen überwand und von ihrem Gefährt in einen Autositz wechselte. Von Aufnahme zu Aufnahme wurde die Frau selbstsicherer und agierte gegen Ende schon ziemlich waghalsig, wie Hogart fand. Nach einer weiteren Badewannen-Nummer - diesmal mit einem Badeanzug im Wasser - erlosch das Bild. Insgesamt hatten die Aufnahmen nicht einmal zehn Minuten gedauert.
    Kurt sah Hogart verblüfft an. »Das ist alles?«
    »Scheint so.« Hogart spulte das Band im Schnellvorlauf weiter, doch das Flimmern blieb bis zum Ende erhalten. »Was ist der Sinn einer solchen Aufnahme?«
    »Schlecht eintrainierte Bewegungsabläufe werden bald zur Gewohnheit. Körperbehinderte Menschen bekommen regelmäßig eine Auffrischung ihrer Therapie. Wie es scheint, wurde der Fortschritt einer Patientin dokumentiert.«
    »Und in dieser Anstalt lernt man, wie man mit einem Rollstuhl umgeht?«
    »Nicht nur das.« Kurt nippte an seinem Kaffee. »Die Patienten lernen, wie man aufs Klo geht, sich ankleidet und sich im Haushalt zurechtfindet. Am wichtigsten sind aber Dehnungsübungen und das Training der Bauchmuskeln. Die rosten oft ein. Du musst dir so ein Zentrum wie ein Fitnesscenter für körperbehinderte Menschen vorstellen, mit Massagen, Akupunktur, Elektrotherapie und Unterwassergymnastik.«
    »Kennst du diese Linda Bohmann?«, unterbrach Hogart ihn. Als er den Namen laut aussprach, klingelte etwas in seinem Kopf, doch er wusste nicht, woher er ihn kannte.
    »Noch nie gesehen. Aber Doktor Dornauer ist mir ein Begriff. Ich kenne ihn zwar nicht persönlich, aber seine Reha-Klinik für
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