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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel
Autoren: Thomas Pynchon
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Morgen. Seine Bananenbüschel wuchern, leuchtendes Gelb und feuchtes Grün. Unten träumen die Gefährten mit wässerndem Mund von einem Bananenfrühstück. Dieser blankgeschrubbte Tag sollte eigentlich nicht schlimmer werden als jeder andere...
    Oder doch? Weit drüben, im Osten, unten am rosa Himmel, hat soeben irgend etwas leuchtend hell aufgeblitzt, ein neuer Stern, nicht weniger als das. Er beugt sich über das Geländer, um zu beobachten. Schon hat sich der strahlende Punkt zu einer kurzen vertikalen Linie ausgewachsen. Muß irgendwo da draußen über der Nordsee sein... so weit mindestens ... unten Eisfelder und ein kalter Schmierer Sonne... Was kann das sein? Derartiges geschieht nie. Aber Pirat weiß ja Bescheid. Er hat es doch in einem Film gesehen, gerade in den letzten vierzehn Tagen ... ein Kondensstreifen ist das. Jetzt schon eine Fingerbreite höher. Aber nicht von einem Flugzeug. Flugzeuge werden nicht senkrecht gestartet. Das ist die neue, diese Top-Secret-Raketenbombe der Deutschen.
    "Post für uns", hat er das geflüstert oder nur gedacht? Er zieht den zerschlissenen Gürtel seines Schlafrocks enger zusammen.
    Die Reichweite dieser Dinger soll ja 300 Kilometer und mehr betragen. Man kann
    schließlich einen Kondensstreifen nicht 300 Kilometer weit sehen, oder?
    Oh - o doch: jenseits der Erdkrümmung, drüben im Osten, die Sonne, die dort gerade
    über Holland aufgegangen ist, sie leuchtet auf den Strahl, den die Rakete ausstößt,
    Tropfen und Kristalle, läßt sie über das Meer herüberblitzen...
    Die weiße Linie hat ihren Aufstieg abrupt beendet. Das muß das Ende des
    Verbrennungsvorgangs sein, wie nennen sie's nur ... "Brennschluß". Wir haben kein
    Wort dafür, oder es wird geheimgehalten. Der Anfang des Streifens, der
    ursprüngliche Stern, hat schon begonnen, in der Morgenröte zu verblassen. Aber die
    Rakete wird hier sein, noch ehe Pirat die Sonne aufgehen sieht.
    Die Spur, verschmiert, an zwei oder drei Stellen leicht ausgezackt, hängt am Himmel.
    Die Rakete, nun reine Ballistik, ist höher gestiegen. Doch unsichtbar jetzt.
    Sollte er nicht irgend etwas tun... den Wachhabenden in Stanmore anrufen, die
    müssen es im Kanal-Radar habennein: keine Zeit dafür. Nicht mal fünf Minuten vom
    Haag bis hierher (die Zeit, die man braucht, um rüber in die Imbißbude an der Ecke
    zu gehen ... die Zeit, die das Sonnenlicht braucht, um den Liebesplaneten zu
    erreichen ... also überhaupt keine Zeit). Auf die Straße rennen? Die anderen
    warnen?
    Bananen pflücken! Er stapft durch den schwarzen Kompost in das Treibhaus hinein. Er spürt, wie ihm das große Scheißen kommt. Das Geschoß muß jetzt hundert Kilometer hoch stehen, den höchsten Punkt seiner Flugbahn erreicht haben ... und jetzt, jetzt beginnt es zu fallen... jetzt...
    Eisenverstrebungen werden vom Tageslicht durchstochen, milchige Fensterscheiben spiegeln wohltätig nach unten. Wie konnte ein Winter, selbst dieser hier, grau genug sein, um solches Eisen zu altern, das singen kann im Wind, oder diese Fenster zu trüben, die sich auf eine neue Jahreszeit öffnen, wie künstlich auch immer erhalten? Pirat blickt auf die Armbanduhr. Nichts geschieht. Alle Poren seines Gesichts prickeln. Er verdrängt das Ganze aus seinem Hirn - ein Trick, den man beim Kommando beigebracht kriegt -, tritt in die feuchte Hitze seiner Bananerie und macht sich daran, die reifsten und schönsten Früchte in seinen geschürzten Morgenmantel zu pflücken. Er gibt sich ganz dem Bananenzählen hin, während er sich barfuß zwischen den herabbaumelnden Büscheln bewegt, im tropischen Halbdunkel... Wieder raus in den Winter. Der Kondensstreifen ist völlig vom Himmel verschwunden. Pirats Schweiß liegt auf seiner Haut, beinahe so kalt wie Eis. Er nimmt sich Zeit, eine Zigarette anzuzünden. Er wird das Ding nicht hereinkommen hören. Es bewegt sich schneller als der Schall. Die erste Nachricht, die man erhält, ist die Explosion. Danach - wenn's einen dann noch gibt -, danach erst hört man das Geräusch ankommen.
    Wie, wenn es nun genau, ganz genau hier- ahh, nein - für den Bruchteil einer Sekunde würde man spüren, wie die Spitze, über der die ganze, schreckliche Masse lastet, auf die Schädeldecke trifft...
    Pirat duckt sich, zieht den Kopf ein und trägt seine Bananen die korkenzieherförmige Eisenleiter hinab.

[1.2] Sandjak von Novi Pazar ...

    Über einen mit blauen Ziegeln ausgelegten Patio durch eine Tür in die Küche. Routine: den amerikanischen Mixer
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