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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel
Autoren: Thomas Pynchon
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aussahen, als wären sie die Schleifen einer Unterführung ... Gerüste aus rußgeschwärztem Holz sind langsam über ihren Köpfen vorübergezogen, imprägniert vom Geruch uralter Kohle, vom Geruch nach Naphthalinwintern, nach Sonntagen, an denen hier kein Verkehr durchkam, nach dem korallenartigen, geheimnisvoll lebendigen Wachstum um blinde Kurven herum, entlang einsamer Nebenstrecken, ein säuerlicher Geruch nach verschwundenen Wagen, nach wucherndem Rost, der durch die immer leereren Tage wächst, leuchtend und tief, vor allem zur Stunde der Dämmerung, wenn blaue Schatten seinen Weg versiegeln, um die Ereignisse auf Absolut Null zu bringen ... und es wird ärmlicher, je tiefer sie vordringen ... geheime Ruinenstädte der Armen, Orte, deren Namen er niemals gehört hat... Mauern brechen ein, Dächer werden seltener, die Hoffnung auf Licht schwindet. Die Straße, statt in eine breite Verkehrsader einzumünden, ist immer enger geworden, immer winkliger, hat sich immer stärker gekrümmt, bis sie alle plötzlich, viel zu früh, unter dem letzten Viaduktbogen angelangt sind: Bremsen greifen, der Wagen bockt und schüttelt heftig. Das ist der endgültige Urteilsspruch: keine Berufung. Die Karawane hat angehalten. Endstation. Alle Evakuierten müssen aussteigen. Sie bewegen sich langsam, doch ohne Widerstand. Die Ordnungskräfte tragen bleifarbene Kokarden und sprechen nicht. Es ist irgendein riesiges, sehr altes und düsteres Hotel, eine eiserne Fortsetzung all der Schienen und Weichen, die sie hierhergelenkt haben ... Kugellampen hängen, dunkelgrün gestrichen, von verzierten, schmiedeeisernen Trägern, seit Jahrhunderten unangezündet... ohne zu murren oder zu husten, bewegt sich die Menge durch Korridore, die schnurgerade verlaufen, funktionell wie die Galerien in einem Warenhaus ... samtschwarze Wände fassen den Strom: Es riecht nach altem Holz, nach entlegenen Zimmerfluchten, verwaist und nur geöffnet, um diesen Ansturm verlorener Seelen aufzunehmen, nach feuchtem Stuck, wo alle Ratten verendet und nur ihre Geister, lautlos wie Höhlenmalerei, starrsinnig und erleuchtet in die Mauern gebannt sind ... gruppenweise werden die Evakuierten nach oben transportiert, in einem Lift, einem Holzgerüst, das nach allen Seiten offen ist und an alten, teerigen Seilen mit gußeisernen Flaschenzügen läuft, deren Radspeichen S-förmig gekrümmt sind. In jedem braunen Stockwerk steigen Fahrgäste ein und aus ... Tausende solcher schweigenden Räume ohne Licht...
    Manche warten allein, andere teilen ihre unsichtbaren Zimmer mit anderen. Unsichtbar, ja, was macht denn Mobiliar noch aus in diesem Stadium der Dinge? Unter den Füßen knirscht uralter Straßendreck, letzte Kristallisationen all dessen, was die Stadt zurückgewiesen hat, womit sie ihre Kinder bedroht und belegen hat. Jeder hat eine Stimme gehört, von der er glaubte, daß sie nur zu ihm alleine spräche: Du hast doch nicht im Ernst gedacht, daß du gerettet werden würdest. Komm, komm, wir alle wissen mittlerweile schließlich, wer wir sind. Kein Mensch würde sich jemals die Mühe machen, ausgerechnet dich zu retten, alter Knabe... Es gibt keinen Ausweg. Leg dich hin und warte, lieg still da und sei ruhig. Das Heulen hält sich am Himmel. Wird es, wenn es kommt, in Dunkelheit kommen, oder wird es sein eigenes Licht mitbringen? Wird das Licht vorher oder nachher kommen? Aber da ist schon Licht. Wie lange ist da schon Licht? Die ganze Zeit über ist Helligkeit hereingesickert, gemeinsam mit der kalten Luft des Morgens, die jetzt über seine Brustwarzen streicht. Das Licht hat begonnen, eine Rotte besoffener Figuren aus der Dunkelheit herauszuschälen, einige von ihnen tragen Uniform, andere nicht, sie umklammern leere oder beinahe leere Flaschen. Hier hängt einer in einem Sessel, dort liegen andere zusammengedrängt in einem erloschenen Kamin oder fläzen sich auf diversen Diwans, auf nicht gesaugten Teppichen und Chaiselongues über alle Ebenen eines riesigen Raumes. Sie schnarchen und schnaufen in den verschiedensten Rhythmen, die immer wieder mal zu einem Chor zusammenfinden, während das Londoner Licht, ein winterliches, elastisches Licht, zwischen den Fenstersprossen hereinwächst und sich inmitten der verblassenden Rauchschwaden ausbreitet, die noch von letzter Nacht vor den gewachsten Balken der Decke hängen. All diese Hingestreckten hier, diese Waffenbrüder, sehen so rosig aus wie ein Haufen holländischer Bauern, die gerade von ihrer garantierten
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