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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel
Autoren: Aurélien Molas
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an.
    »Das Vergnügen war ganz meinerseits, Kollege.«
    »Ich habe etwas für Sie«, sagte die Kommissarin und öffnete ihre Tasche.
    Sie überreichte ihm einen nagelneuen Polizeiausweis, der das Akronym OCLCTIC trug.
    »Ich würde mich glücklich schätzen, Sie in meiner Abteilung begrüßen zu dürfen, Capitaine.«
    »Capitaine ...«, wiederholte er mit einem müden Lächeln.
    Er hatte einen großen Schritt auf der Karriereleiter gemacht. Trotzdem konnte er sich, seltsamerweise, darüber nicht freuen. Er betrachtete sein Foto hinter der Plastikfolie. Seit seinem Eintritt in den Polizeidienst hatte es sich nicht verändert. Er hatte sich schon verändert. Er gab den Ausweis zurück.
    »Danke, aber ich will den Dienst quittieren. Es hat nichts mit Ihnen zu tun. Ich glaube nur, dass es Zeit für mich ist, etwas anderes zu tun.«
    »Wollen Sie nicht Ihre Genesung abwarten, ehe Sie sich entscheiden?«
    »Nein, meine Entscheidung ist gefallen. Für mich ist es vorbei. Ich steige aus.«
    Weihnachten zog sich in die Länge. Die von Girlanden erleuchtete Fassade des Pariser Rathauses spiegelte sich goldbraun auf der Kunsteisbahn wider. Clara stürmte voran, wobei sie sich fest an Léos Hand klammerte, während sie ihm zurief, schneller zu laufen.
    Er legte einen Zahn zu, bis sich die Schattenrisse der anderen Läufer auflösten und die Welt um sie herum weicher wurde. Er schlief nicht. Er war nicht wach. In diesem Übergangszustand, in dem alles kippen kann, wurde er von nebelhaften Bildern überflutet. Er sah, wie sich die maßgeblichen Personen in seinem Leben auflösten und zu einer Gestalt verschmolzen – zu einem unbekannten und zugleich vertrauten Gesicht. Wie ein Gespenst, das all seine Ängste verdeutlichte. Er sah, wie es alterte. Falten gruben sich ein, als wären es Schnittwunden. Flüchtig sah er andere alptraumhafte Gestalten, die über der Stadt schwebten, und verjagte sie. Er drückte Claras Hand fester und lauschte ihrem Lachen.
    Etwas in ihm, klar wie eine Kinderstimme, flüsterte ihm zu, dass sein Platz hier sei.

84
Cayeux-sur-Mer,
Sondereinheit
    Alain Broissard wachte gegen Mitternacht auf, schlief wieder ein wie ein nasser Sack und wurde um drei Uhr in der Früh munter.
    Drei Wochen lang schlief er quasi ohne Unterbrechung. Der lange Genesungsprozess schien kein Ende zu nehmen. Er hatte viel Blut verloren, und Sylvain Carrère hatte für die Transfusionen Blut gespendet.
    Kommissar Musil hatte seine heimliche Verlegung nach Cayeux-sur-Mer organisiert. Er wurde in einem kleinen Zimmer bei Christian Franju untergebracht, der sich rund um die Uhr um ihn kümmerte. Die Wunden heilten – doch die Alpträume blieben.
    Ohne sich zu rühren, betrachtete der Capitaine seine schlechten Erinnerungen. Er sah sie dem Meer entsteigen, über den Kieselstrand wandeln und durch das Fenster ins Zimmer schleichen. Erinnerungen an die mörderische Raserei, die ihn überkommen hatte, lähmten ihn. Der Strom toxischer Bilder vergiftete ihn abermals.
    Als er die Kinder rettete, hatte er gewissermaßen den eigenen Sohn vor Augen, um den er sich nie gekümmert hatte. Aber die Wiedergutmachung seiner Schuld hatte nicht den erhofften Geschmack: weder lieblich noch süß. Die Bitterkeit war nur weniger widerlich, fast erträglich.
    »Bist du wach?«
    Eine Stimme, auf die er nicht gefasst war, zwang ihn dazu, sich umzudrehen.
    »Was machst du denn hier?«
    »Christian hat mich benachrichtigt. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.«
    Maxime Kolbe, der auf einem Stuhl neben dem Bett saß, beugte sich zu Broissard vor und tätschelte ihm die Hand. Er wollte sie zurückziehen, aber sein Arm war zu schwach.
    »Ich will jetzt die Wahrheit wissen ...«
    »Du bist zu erschöpft.«
    »Nein, nach allem, was ich durchgemacht habe, stehen mir diese Antworten zu.«
    »Wie du willst.«
    Maxime Kolbe atmete tief ein.
    »Alles hat 1983 begonnen. Damals hat das, was ich gesehen habe, mir ein wenig ... den Verstand geraubt. Ich wurde eingewiesen. Das gab mir Zeit zum Nachdenken. Monatelang habe ich die Gründe zu verstehen versucht. Wieso tut man Kindern so etwas an? Wieso tut man das x-beliebigen Kindern an? Ich habe das Bedürfnis verspürt, dem Grauen einen Sinn zu geben. Ich wollte der Sache auf den Grund gehen. Da bin ich in diese Welt der Schande und Verkommenheit eingetaucht, um den Ursprung dieses Übels zu verstehen und meine eigenen Grenzen auszutesten. Das war eine Art Initiation, wie es die letzten Tage zweifellos für dich
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