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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel
Autoren: Aurélien Molas
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begann die Verfolgungssoftware zu surren und ließ den Rechner vibrieren. Zoés Körper war gespannt wie eine Saite, ihre Hand lag auf dem Handy, bereit, den Alarm auszulösen.
    Die Rechner liefen heiß. Die Software näherte sich dem Ziel und schränkte den geografischen Suchbereich immer weiter ein.
    Frankreich.
    Region: Mittelfrankreich.
    Departement: Creuse.
    Der Name des Ortes blinkte auf.
    »Nein, nein, nein, nein. Das ist nicht möglich.«
    Ihre eigene Stimme wie in einem verzerrten Echo vernehmend, schrie Zoé Befehle in ihr Handy. Léopold hatte das Gefühl, dass alles um ihn herum kippte. In dem Augenblick, als er eine verschwommene Silhouette ins Bild stürmen und aus nächster Nähe auf die Männer schießen sah, die die Kinder vergewaltigten, glaubte er, den Verstand zu verlieren.
    Die Gestalt hielt weiter auf die Maskierten zu, die sich in ihrem Blut wanden. Ihr Röcheln übertönte das Geschrei der Kinder.
    Die Gestalt wandte sich Léo zu, und im Bruchteil einer Sekunde glaubte er Broissards verzerrtes Gesicht zu erkennen. Blutspritzer überzogen die Wände mit Arabesken. Entsetzt betrachtete Léopold den einfarbig roten Bildschirm.
    Wie aus großer Ferne hörte er Polizeisirenen und Stimmen, die nach ihm riefen, kaum hörbar und unwirklich. Er spürte Hände, die ihn berührten, abtasteten.
    In den Fluten, schwerelos in einer gefühlsfreien Welt.
    Er versuchte sich vorzustellen, wie er nach dem, was er gesehen hatte, weiterleben konnte.
    In einem Narkolepsie-Anfall kippte er nach hinten und fiel in eine seltsame und beruhigende Bewusstlosigkeit.

83
Paris,
Hôpital Saint-Louis,
Sondereinheit
    Eine Reihe von Panoramaaufnahmen zeigte zerstörte Stadtviertel und Flammenmeere, die die Feuerwehr zu löschen versuchte.
    »Offenbar hat alles mit Berichten auf Blogs begonnen, die ›Gerechtigkeit und Wahrheit‹ für einen jungen Maghrebiner forderten, der nach einer Razzia in seiner Wohnung spurlos verschwunden ist.«
    Ein Bereitschaftspolizist in Schutzkleidung, das Helmvisier hochgeklappt, holte Luft und deutete mit dem Finger auf die Barrikaden, die quer über die Straße verliefen.
    »Eine ganze Generation greift zu den Waffen. Niemand kann vorhersagen, wie das enden wird.«
    Nach einer raschen Überleitung zeigte die folgende Reportage den Eingang des Gebäudes Quai des Orfèvres 36 im Morgenlicht. Blandine Pothin mit einer dunklen Sonnenbrille, die die Hälfte ihres Gesichts bedeckte, flankiert von zwei Beamten, bahnte sich einen Weg durch die Horde der Journalisten, die sich gegenseitig beiseiteschubsten, um sie zu interviewen.
    »Mademoiselle Pothin! Was können Sie uns über Gerüchte sagen, wonach es in der Pariser Kripo Personen gibt, die mit dem organisierten Verbrechen gemeinsame Sache machen?«
    Blandine stieß die Mikrofone zurück, die man ihr vor die Nase hielt, und stieg rasch in ein Zivilfahrzeug der Polizei ein. Eine Delegation von Offizieren verließ ihrerseits den Sitz der Pariser Kripo und blieb stehen, um sich den Fragen der Reporter zu stellen, die sich wie eine Mauer vor ihnen aufgebaut hatten.
    Léopold, geschwächt, noch schwer angeschlagen von dem Hirntrauma, das er erlitten hatte, wandte die Augen von dem Bildschirm ab, der über seinem Bett hing. Mit der Fingerspitze drückte er auf die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.
    Sein rechter Arm war wie taub, und an der Stelle, wo ihm die Infusion gelegt worden war, spürte er ein Kribbeln. Der Tinnitus verwandelte das laute Treiben in der Klinik in wie durch Watte gedämpfte, ferne Klänge, die ihm den Eindruck vermittelten, die Ereignisse wie im Halbschlaf zu erleben. Er ließ seinen Blick zum x-ten Mal über die Einrichtung seines Zimmers gleiten, die im blendend weißen Licht der Neonröhren abweisend wirkte. Nicht nach diesem Weiß sehnte er sich. Ihn verlangte nach einem unbefleckten, reinen Weiß, das nicht nach Krankheit und Tod roch.
    Er versuchte sich in seinem Bett aufzurichten, aber sein Herz schlug immer schneller. Eine bleierne Müdigkeit überfiel ihn und zwang ihn, auf jede Anstrengung zu verzichten.
    In seinem Gedächtnis klaffte ein schwarzes Loch, in dem die Erinnerungen der letzten Stunden verschwunden waren. Lückenhafte Szenen ohne Chronologie. Sporadisch aufblitzende Eindrücke.
    Mehr schlecht als recht zähmte er den Strom der Bilder. Gesichter, die sich über ihn beugten. Unverständliche Sätze. Die Fahrt im Krankenwagen ins Hôpital Saint-Louis hatte sich lange hingezogen, bevor er ein zweites
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