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Die einzige Blume im Sumpf - Geschichten aus Ägypten

Die einzige Blume im Sumpf - Geschichten aus Ägypten

Titel: Die einzige Blume im Sumpf - Geschichten aus Ägypten
Autoren: Lenos Verlag
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Teetablett in der Hand herein, als der Lehrer gerade nach der Quadratwurzel von fünfundzwanzig fragte. Der Junge bohrte ratlos in der Nase, gaffte blöde zu seiner Mutter hinüber und antwortete nicht. Nûna aber, die von der Lehrerin viel über Quadratwurzeln gehört hatte, konnte sich nicht mehr zurückhalten, und als der Junge plötzlich dreist »vier« sagte, rief sie, genau wie die Lehrerin immer, ganz aufgeregt: » Fünf, du Dummkopf!« und liess fast das Teetablett fallen. Der Lehrer brach in verblüfftes Gelächter aus, der Junge aber rannte zu ihr hin und wollte ihr eine runterhauen. Doch seine Mutter war schneller. Aus Furcht, die kristallenen Teegläser könnten zerbrechen, sprang sie von ihrem Platz auf und erledigte selbst das mit der Ohrfeige. Es war das einzige Mal während der ganzen drei Jahre, die Nûna in diesem Haus verbrachte, dass die Herrin sie schlug, und obwohl die Herrin durchaus recht hatte, als sie dem Lehrer sagte, Nûna müsse das aus derMädchenschule gehört haben, die »Fenster an Fenster« mit ihrer Wohnung liege, hatte Nûna doch gelernt, nie mit jemandem im Haus darüber zu sprechen, damit es der Herrin nicht doch noch einfiele, sie hinauszuwerfen. Denn sie wollte am liebsten bleiben, wo die Schule und die Mädchen waren und diese schöne Welt, deren Geräusche sie täglich durch das Küchenfenster hörte, ohne sie je zu sehen. Sie wollte am liebsten bleiben, trotz dieses heissen Feuers, das Tag und Nacht in ihrer Brust brannte, der Sehnsucht nach ihrer Mutter und ihren Geschwistern, des Wunsches, mit anderen Kindern durch die Felder zu streifen, dort herumzulaufen, wo es nach Pflanzen roch und nach taufrischer Frühe, wo man die Sonne jeden Morgen aufgehen sah und wo sie, wenn sie ärgerlich oder wütend war, ihre Mutter rufen hörte: »Naîma, mein Liebes, komm her, mein kleines Naîmchen.« Und alles war wieder gut.
    Sie mochte ihren richtigen Namen, Naîma, sehr gern, auch den Kosenamen Naîmchen. Nûna fand sie nicht hübsch. Diesen Namen hatte ihr die Herrin gegeben, und alle nannten sie so, seit sie von ihrem Dorf hierhergekommen war, in dieses Haus, bis sie es auf immer verliess.
    Das war an jenem Tag, nach welchem dann niemand etwas von Nûna wusste und bis zu welchem ihr Leben völlig normal verlaufen war. Wie üblich war sie früh aufgewacht und war Brot holen gegangen. Dann hatte sie das Frühstück für den Herrn Offizier, seine Frau und seinen Sohn gerichtet, hatte dem Müllmann die Blechschale mit dem Abfall hinausgebracht und hatte sich, nachdem alle weggegangen waren, in die Küche begeben. Doch gegen vier Uhr wurde plötzlich alles anders in ihrem Leben. Da klopfte es nämlichan der Tür, und Abu Sarî, ihr Vater, stand davor, der, nach Grüssgott und Gutentag, nach Essen und Teetrinken, nach dem Neuesten von Mutter und Geschwistern – alle schön der Reihe nach – und nach einigem Hin und Her eine Bombe platzen liess, als er sagte, dabei einen prüfenden Blick auf ihre Brust und ihren Körper werfend und so hocherfreut lächelnd, dass seine schwarzen Zähne sichtbar wurden, diesmal werde er sie mit nach Hause nehmen; sie werde nämlich heiraten. Er zeigte ihr den Ohrring, den ihr Bräutigam für sie gekauft habe, welcher gerade aus dem Lande des Propheten mit mehr als genug Geld zur kompletten Ausstattung eines ganzen Zimmers im Hause seiner Mutter zurückgekehrt sei. Da rutschte Nûna das Herz bis zu den Fersen; sie war drauf und dran loszuheulen. Doch Abu Sarî, der sah, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich und sie weiss wie ein Rettich wurde, beruhigte sie, noch immer lächelnd, sie brauche keine Angst zu haben, das passiere jedem Mädchen einmal und es sei überhaupt nichts Schlimmes dabei. Sie solle sich übrigens fertigmachen, mahnte er dann, sie würden nämlich am Morgen abreisen. Danach entschloss er sich, auch ihr die Freude zu machen, die man ihm schon gemacht hatte – er teilte ihr mit, die Herrin würde ihr als Geschenk einen ganzen zusätzlichen Monatslohn geben, ausserdem zwei Stück Stoff, die noch nie eine Schere berührt hätte, und dann hätte es der Gütige auch noch gefügt, dass ihre jüngere Schwester ihre Stelle hier im Haus übernehmen könnte.
    »Alles war völlig normal an jenem Abend«, sagte die Frau des Herrn Offizier zum Staatsanwalt, und Mann und Sohn pflichteten ihr bei, sogar Abu Sarî. Nûna hatte das Abendessen gerichtet, hatte das Geschirr abgewaschen und hatte demJungen, der in seinem Zimmer lernte, seinen Tee
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