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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
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mit furchterregenden Schatten. Als Mattia aus dem Fenster schaute, um den Clown nicht mehr ansehen zu müssen, fiel ihm Michela wieder ein. Dabei hatte er sie nie ganz vergessen, doch zum ersten Mal stellte er sich nun vor, wie sie allein unter den Bäumen saß und auf ihn wartete und sich dabei mit den weißen Wollhandschuhen das Gesicht rieb, um sich ein bisschen zu wärmen.
    Er stand auf, gerade in dem Moment, als Riccardos Mutter mit einer Torte mit brennenden Kerzen obendrauf den dunklen
Raum betrat und alle zu applaudieren begannen, zum Teil dem Clown mit seiner Geschichte, und zum Teil wegen der Torte.
    »Ich muss los«, sagte er, noch bevor Signora Pelotti die Geburtstagstorte auf dem Tisch abgestellt hatte.
    »Jetzt schon? Aber hier ist doch der Geburtstagskuchen.«
    »Ja, sofort. Ich muss gehen.«
    Riccardos Mutter blickte ihn über die Kerzen hinweg an. Auf diese Weise beleuchtet, war auch ihr Gesicht voller bedrohlicher Schatten. Die anderen Gäste schwiegen.
    »Wie du meinst«, sagte sie mit unsicherer Miene. »Ricky, bring deinen Freund zur Tür.«
    »Aber ich muss doch die Kerzen ausblasen«, protestierte das Geburtstagskind.
    »Tu, was ich dir sage«, befahl ihm die Mutter, ohne den Blick von Mattia abzuwenden.
    »Du bist so ein Spielverderber, Mattia!«
    Jemand lachte. Mattia folgte Riccardo zur Wohnungstür, griff sich seine Jacke unter einem Berg von Jacken und sagte Danke und Ciao. Riccardo antwortete nicht, sondern schloss rasch die Tür hinter ihm, um zu seiner Torte zurückzueilen.
    Unten im Hof des Mietshauses blieb Mattia einen kurzen Moment stehen und blickte zu den erhellten Fenstern von Riccardos Wohnung hinauf. Das Geschrei seiner Kameraden drang durch die Scheiben gedämpft an sein Ohr, wie das beruhigende Murmeln des Fernsehgeräts abends im Wohnzimmer, wenn seine Mutter sie beide, Michela und ihn, ins Bett geschickt hatte. Mit einem trockenen Klacken schloss sich das Törchen hinter ihm, und er begann zu laufen.
    Im Park reichte nach ein paar Schritten das Licht der Straßenlaternen nicht mehr aus, um den Kiesweg zu erkennen.
Die kahlen Äste der Bäume, unter denen er Michela zurückgelassen hatte, waren nur noch schwarze Kratzer am dunklen Himmel. Schon von Weitem überkam ihn, unerklärbar deutlich, die Gewissheit, dass seine Schwester nicht mehr dort war.
    Wenige Meter vor der Bank, auf der Michela einige Stunden zuvor gesessen und die Knöpfe von ihrem Mantel gerupft hatte, blieb er stehen. Während sein Atem sich langsam beruhigte, lauschte er reglos, als müsse seine Schwester jeden Augenblick hinter einem Baum auftauchen und Kuckuck rufen und ihm entgegenflattern, mit ihren ungelenken Schritten.
    »Michi!«, rief er und erschrak dabei vor seiner eigenen Stimme. Dann noch einmal, aber leiser. Er trat zu den Holztischen und legte die Handfläche auf die Bank, wo Michela gesessen hatte. Sie war so kalt wie alles andere um ihn her.
    Sie wollte nicht länger warten und ist schon nach Hause gegangen, dachte er.
    Aber sie kennt ja noch nicht mal den Weg. Und außerdem kommt sie allein nicht über die Schnellstraße hinüber.
    Mattia blickte in den Park, der sich in der Dunkelheit vor ihm verlor. Er wusste noch nicht einmal, wie weit er reichte. Auch wenn es ihm unheimlich war, blieb ihm keine andere Wahl, als Michela suchen zu gehen.
    Auf Zehenspitzen, damit das Laub unter seinen Füßen nicht raschelte, bewegte er sich weiter in die Dunkelheit hinein, blickte in alle Richtungen, in der Hoffnung, Michela hinter einem Baum zu entdecken, am Boden hockend, damit beschäftigt, einem Skarabäus oder irgendeinem anderen Krabbeltier aufzulauern.
    Er betrat den umzäunten Bereich mit den Spielgeräten und versuchte sich anstrengt daran zu erinnern, welche Farbe die
Rutschbahn hatte, damals im Sonntagnachmittagslicht, als Mama dem Gezeter von Michela nachgegeben hatte und sie hinaufklettern ließ, obwohl sie für die Rutschbahn eigentlich schon zu groß war.
    An den Hecken entlang erreichte er die Toilettenhäuschen, fand aber nicht den Mut einzutreten und folgte dem Weg, der in diesem Teil des Parks nur ein schmaler Pfad war, den die hin und her spazierenden Familien durch die Wiese gespurt hatten. Etwa zehn Minuten trottete er ihn entlang, bis er nicht mehr wusste, wo er überhaupt war. Da begann er zu heulen und zu husten, beides zu gleicher Zeit.
    »Du bist wirklich so dumm, Michi«, stöhnte er halblaut vor sich hin, »dumm und zurückgeblieben, ja das bist du. Tausend Mal hat dir Mama
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