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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
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Abteilung.
    »Aber Mama, das ist zu viel«, protestierte ihr Sohn.
    »Ach was. Außerdem seid ihr zu zweit. Ihr wollt euch doch wohl nicht blamieren?«

    Mattia wusste nur allzu gut, dass sie sich, Lego hin oder her, auf alle Fälle blamieren würden. Etwas anderes war mit Michela völlig ausgeschlossen. Und er wusste auch genau, dass Riccardo sie nur eingeladen hatte, weil seine Eltern ihn dazu genötigt hatten. Michela würde die ganze Zeit an ihm kleben, würde sich den Orangensaft übers Kleidchen kippen und irgendwann zu quengeln beginnen, so wie immer, wenn sie müde wurde.
    Zum ersten Mal überlegte Mattia jetzt, dass es vielleicht besser wäre, ganz zu Hause zu bleiben.
    Oder genauer, dass es besser wäre, wenn Michela zu Hause bliebe.
    »Mama …«, begann er unsicher.
    Adele war dabei, in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie zu kramen.
    »Ja?«
    Mattia holte Luft.
    »Muss Michela denn wirklich mitkommen, zu dem Geburtstag?«
    Adele erstarrte und sah ihrem Sohn fest in die Augen. Mit gleichgültiger Miene, eine Hand über dem Rollband ausgestreckt, beobachtete die Kassiererin die Szene. Michela vertauschte unterdessen die Bonbontüten am Ständer.
    Die Hitze schoss Mattia ins Gesicht, der auf eine Backpfeife gefasst war, die er aber nie bekam.
    »Natürlich kommt sie mit«, erklärte seine Mutter nur, und damit war die Sache erledigt.
     
    Zu Riccardo war es nicht weit. Höchstens zehn Minuten zu Fuß. Den Weg konnten sie allein zurücklegen. Um Punkt drei schob Adele die Zwillinge aus der Tür.

    »Jetzt aber los, sonst kommt ihr noch zu spät. Und denkt dran, euch bei seinen Eltern zu bedanken«, sagte sie.
    Dann wandte sie sich an Mattia. »Pass gut auf deine Schwester auf! Du weißt, was sie sich alles in den Mund steckt.«
    Mattia nickte, und Adele küsste beide auf die Wangen, Michela aber länger. Sie schob ihr noch ein paar Haarbüschel unter dem Reif zurecht und sagte: »Viel Spaß!«
    Unterwegs zu Riccardo wurden Mattias Gedanken untermalt vom Rauschen der Legoteile im Karton, die wie eine schwache Brandung gleichmäßig mal gegen die eine, mal gegen die andere Seite schwappten. Hinter ihm, ein paar Meter zurück, mühte sich Michela, mit ihm Schritt zu halten, und stolperte schlurfend durch den Matsch aus totem Laub, das am Boden klebte. Die Luft war windstill und kalt.
    Sie wird alle Kartoffelchips auf dem Fußboden verteilen, dachte Mattia.
    Sie wird sich den Ball schnappen und ihn nicht mehr hergeben.
    »Komm endlich!«, sagte er, indem er sich zu seiner Schwester umdrehte, die jetzt auf dem Gehweg hockte und mit einem Finger einen langen Wurm quälte.
    Michela blickte ihren Bruder an, als sehe sie ihn nach langer Zeit zum ersten Mal wieder. Den Wurm zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt, lief sie lächelnd auf Mattia zu.
    »Was machst du denn da wieder!? Schmeiß ihn fort«, befahl ihr Mattia, indem er zurückwich.
    Noch einen kurzen Moment betrachtete Michela das Tierchen und schien sich zu fragen, wie es zwischen ihre Finger geraten war. Dann ließ sie es fallen und versuchte, auf ihre
ungelenke Art dem Bruder nachzulaufen, der sich bereits wieder ein paar Schritte von ihr entfernt hatte.
    Sie wird sich den Ball holen und keinem mehr abgeben, genau wie in der Schule, dachte Mattia.
    Er betrachtete die Zwillingsschwester, die die gleichen Augen hatte wie er, seine Nase, exakt seine Haarfarbe, aber ein Gehirn, das man vollkommen vergessen konnte, und zum ersten Mal verspürte er echten Hass auf sie. An der Hauptstraße, wo die Autos rasten, nahm er sie an die Hand. Und während sie so die Straße überquerten, kam ihm eine Idee.
    Nein, das kann ich nicht machen, dachte er, als er Michelas Hand in dem Wollhandschuh wieder losließ.
    Während sie am Park entlanggingen, überlegte er es sich aber noch mal anders und gelangte zu der Überzeugung, dass es ganz sicher niemand merken würde.
    Es ist ja nur für ein paar Stunden, dachte er. Nur dieses eine Mal.
    Er ergriff Michelas Arm, bog ab und betrat den Park. Die Wiesen waren noch feucht vom Raureif der Nacht. Michela trottete hinter ihm her und besudelte ihre neuen hellen Wildlederstiefel im Schlamm.
    Der Park war leer. Bei dieser Kälte hatte kein Mensch Lust, spazieren zu gehen. Die Zwillinge gelangten zu einem Platz unter hohen Bäumen, der mit drei Holztischen und einer Grillecke ausgestattet war. In der ersten Klasse hatten sie dort einmal gepicknickt, auf einem Ausflug, bei dem ihre Lehrerinnen sie trockene Blätter sammeln ließen,
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