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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
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erklärt: Bleib, wo du bist, wenn du dich verirrt hast … Aber du verstehst ja nie was … Nichts verstehst du, absolut nichts …«
    Er stieg einen leichten Hang hinauf und fand sich vor dem Fluss wieder, der den Park durchschnitt. Viele Male hatte sein Vater ihm gesagt, wie er hieß, doch jetzt fiel Mattia der Name nicht mehr ein. Das Wasser reflektierte ein schwaches Licht von irgendwoher, das in seinen feuchten Augen flackerte.
    Als er ans Flussufer trat, hatte er das Gefühl, dass Michela ganz in der Nähe war. Sie mochte Wasser. Mama erzählte immer, dass sie früher, als sie noch kleiner gewesen und zusammen gebadet worden waren, nie aus der Wanne wollte und dann wie am Spieß brüllte, auch wenn das Wasser längst kalt geworden war. Eines Sonntags hatte Papa sie zum Fluss mitgenommen, vielleicht genau zu dieser Stelle am Ufer, und ihnen gezeigt, wie man flache Steinchen übers Wasser springen ließ. Während er ihnen erklärte, dass man sie aus dem Handgelenk werfen sollte, weil nur dadurch die Rotation
entstehe, hatte Michela sich weit vorgebeugt und es geschafft, bis zur Hüfte ins Wasser zu rutschen, bevor Papa sie am Arm packen und festhalten konnte. Er hatte ihr eine runtergehauen, woraufhin sie zu flennen begann, und dann waren sie alle drei wieder nach Hause gelaufen, schweigend und mit langen Gesichtern.
    Das Bild, wie Michela am Ufer stand, mit einem Zweig ihr Spiegelbild auf der Wasseroberfläche zerriss und dann wie ein Kartoffelsack in den Fluss rutschte, durchfuhr Mattias Schädel mit der Gewalt eines Stromschlags.
    Erschöpft ließ er sich, einen halben Meter vom Wasser entfernt, zu Boden sinken, und als er sich umdrehte und hinter sich blickte, sah er nichts als eine Finsternis, die noch viele Stunden andauern würde.
    Den Blick auf die schwarze, glatte Oberfläche des Flusses gerichtet, versuchte er sich noch einmal an dessen Namen zu erinnern, aber er fiel ihm einfach nicht ein. Mit den Händen grub er in der kalten Erde, die hier am Ufer durch die Feuchtigkeit ganz weich war. Seine Finger stießen auf eine Glasscherbe, die wohl von einer nächtlichen Party zurückgeblieben war. Als er sie sich in die Hand stach, spürte er keinen Schmerz, ja, er merkte es kaum. Dann begann er den Glassplitter im Fleisch hin und her zu drehen, damit er noch tiefer eindrang. Dabei wandte er den Blick nicht ab vom Wasser, und während er wartete, dass Michela gleich dort auftauchte, fragte er sich, wieso manche Dinge auf dem Wasser trieben und andere untergingen.

Auf der Haut und knapp darunter (1991)

3
    Diese monströse weiße Keramikvase mit den verschnörkelten goldenen Blumenmustern, die immer schon in einer Ecke des Badezimmers gestanden hatte, befand sich seit fünf Generationen im Besitz der Familie Della Rocca, gefiel aber eigentlich niemandem. Immer mal wieder hatte Alice den Drang verspürt, sie zu Boden zu knallen und die winzigen, unschätzbar wertvollen Scherben in die Mülltonne vor der Villa zu werfen, zu den leeren Tetra-Pak-Tüten mit Tomatenpüreeresten, den gebrauchten Monatsbinden - natürlich nicht von ihr - und den durchgedrückten Blistern, in die einmal die Beruhigungsmittel ihres Vaters eingeschweißt gewesen waren.
    Alice fuhr mit den Fingern darüber und dachte, wie kalt, glatt und sauber diese Vase doch war. Soledad, ihre Haushälterin aus Ecuador, war mit den Jahren in ihrer Arbeit immer gewissenhafter geworden, denn im Hause Della Rocca achtete man auf Kleinigkeiten. Knapp sechs Jahre war Alice alt gewesen, als sich Soledad bei ihnen vorgestellt hatte. Im Schutz des mütterlichen Rockes hatte sie die Neue misstrauisch
beobachtete, aber diese beugte sich freundlich lächelnd zu ihr hinab und betrachtete sie bewundernd. Du hast aber schöne Haare, sagte sie zu ihr, darf ich die mal anfassen? Alice biss sich auf die Lippen, um nicht Nein zu antworten, und so legte sich Soledad, so behutsam, als wäre es Seide, eine kastanienbraune Haarsträhne auf ihre Handfläche und ließ sie dann sachte fallen. Sie hatte es kaum fassen können, dass es so feines Haar überhaupt gab.
    Alice hielt den Atem an, während sie das Unterhemd über den Kopf zog, und kniff kurz die Augen zusammen.
    Als sie sie wieder öffnete und sich in dem großen Spiegel über dem Waschbecken sah, überkam sie eine wohlige Enttäuschung. Sie wickelte den Gummizug ihres Slips zweimal herum, sodass er gerade bis über die Narbe reichte und so gestrafft war, dass er ihre Hüftknochen wie eine Brücke verband und sich
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