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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
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zuvor. Und dann noch einmal: »Könntest du das bitte wiederholen?«, nun langsamer, jede Silbe betonend.
    »Ich hab gesagt, das kannst du mir nicht verbieten«, antwortete Alice, indem sie aufsah. Aber länger als eine halbe Sekunde konnte sie dem kalten, durchdringenden Blick ihres Vaters nicht standhalten.
    »Glaubst du das im Ernst? Soweit ich informiert bin, bist du fünfzehn Jahre alt, was dich, die Rechnung ist sehr einfach, für genau drei weitere Jahre an die Entscheidungen deiner Eltern bindet«, erklärte der Anwalt. »Nach Ablauf dieser Frist steht es dir frei, deine Haut mit Blumen, Totenköpfen oder was auch immer zu verunstalten.«
    Della Rocca lächelte auf seinen Teller, rollte sich eine Gabel Spaghetti auf und steckte sie in den Mund.
    Ein langes Schweigen machte sich breit. Alice spielte mit dem Saum der Tischdecke, während ihre Mutter, unzufrieden mit dem Verlauf des Abendessens, an einem Grissino knabberte und den Blick durchs Esszimmer schweifen ließ. Nur ihr Vater aß mit zur Schau gestelltem Genuss, ließ kauend den Kiefer kreisen und schloss bei jedem neuen Bissen, vom Geschmack überwältigt, kurz die Augen.
    Alice beschloss, noch einen draufzusetzen, weil sie ihn wirklich verachtete, und weil ihr, wenn sie ihn so essen sah, auch noch das gesunde Bein steif wurde.
    »Dir ist es doch ganz egal, dass ich niemandem gefalle«, erklärte sie. »Dass ich niemals jemandem gefallen werde.«
    Ihr Vater schaute sie fragend an und wandte sich dann wieder seinem Essen zu, als wenn gar nichts gesagt worden wäre.
    »Dir ist es ganz egal, dass du mein Leben zerstört hast«, fuhr Alice fort.

    Die Gabel auf halber Höhe, hielt der Anwalt in der Bewegung inne. Einige Sekunden schaute er seine Tochter entgeistert an.
    »Ich weiß gar nicht, wovon du redest«, antwortete er dann mit leicht bebender Stimme.
    »Und ob du das weißt«, ließ sich Alice nicht beirren. »Nur dir habe ich es zu verdanken, dass ich behindert bin. Für immer.«
    Alices Vater legte die Gabel auf dem Tellerrand ab und nahm eine Hand vor die Augen, als müsse er gründlich über etwas nachdenken. Dann stand er auf und verließ den Raum. Von dem glatten Marmorfußboden im Flur hallten seine Schritte wider.
    »Oh, Alice«, sagte Fernanda ohne Mitleid oder Tadel, nur resigniert den Kopf schüttelnd. Dann folgte sie ihrem Gatten.
    Noch fast zwei Minuten starrte Alice auf den kaum angerührten Teller ihrer Mutter, während Soledad, lautlos wie ein Schatten, bereits den Tisch abräumte. Dann steckte sie sich die gefüllte Serviette in die Tasche und schloss sich im Bad ein.

4
    Pietro Balossino hatte es schon lange aufgegeben, zur düsteren Welt seines Sohnes Zugang zu finden. Wenn sein Blick unabsichtlich auf dessen von Narben entstellte Arme fiel, dachte er an die schlaflosen Nächte zurück, als er die ganze Wohnung auf der Suche nach scharfen Gegenständen auf den Kopf gestellt hatte, jene Nächte, in denen Adele, vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln, mit offenem Mund auf dem Sofa schlief, weil sie das Bett nicht mehr mit ihm teilen wollte. Jene Nächte, als die Zukunft nicht über den nächsten Morgen hinauszugehen schien und er jede einzelne Stunde zählte, an den Glockenschlägen in der Ferne.
    Die Erwartung, seinen Sohn eines Tages mit dem Gesicht in einem blutgetränkten Kissen aufzufinden, hatte sich derart tief in seinem Kopf festgesetzt, dass er sich schon angewöhnt hatte, so zu denken, als wäre Mattia bereits nicht mehr bei ihnen, wie auch jetzt, obwohl er im Wagen auf dem Beifahrersitz neben ihm saß.
    Sie waren unterwegs zur neuen Schule. Draußen regnete
es, doch der Regen war so fein, dass kein Geräusch entstand.
    Einige Wochen zuvor hatte die Direktorin des Naturwissenschaftlichen Gymnasiums Adele und ihn zu einer Unterredung in ihr Büro gebeten, um sie, wie sie Mattia ins Heft geschrieben hatte, mit einem gewissen Sachverhalt vertraut zu machen. Bei dem Treffen holte sie dann weit aus, verbreitete sich über den sensiblen Charakter des Jungen, seine außerordentliche Intelligenz und seinen Notendurchschnitt von sehr gut .
    Signor Balossino hatte darauf bestanden, dass sein Sohn an der Besprechung teilnahm, aus Gründen der Fairness, die aber wohl nur ihm wichtig war. Denn während er neben seinen Eltern saß, hob Mattia nicht ein einziges Mal den Blick von seinen Knien. Indem er die Fäuste ballte, gelang es ihm, seine linke Hand, wenn auch nur sehr oberflächlich, zum Bluten zu bringen. Zwei Tage zuvor war Adele so
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