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Die dunklen Engel (German Edition)

Die dunklen Engel (German Edition)

Titel: Die dunklen Engel (German Edition)
Autoren: Susannah Kells
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Revolution würde Rückschritte machen, hatte Bertrand Marchenoir diese Woche das Gemetzel in den Gefängnissen angeführt.
    Für alle, die Rache an den Privilegierten nehmen wollten, war Marchenoir ein Idol, für die Gemäßigten eine Heimsuchung. Niemand sollte vergessen, dass er als Bauer geboren worden war. Keine Gosse, sagte er, war niederer als diejenige, in der er aufgewachsen war, und kein Palast, schrie er, so hoch, dass er nicht niedergerissen werden konnte. En avant, en avant , diese Woche waren wieder Tausende dafür gestorben, dass es mit Marchenoirs Revolution voranging.
    Dies war der Mann, der nahezu unbeeindruckt einen Blick auf die Schlachterei auf dem Boden der Zelle warf und dann wieder den Zigeuner anschaute. «Du bist also Gitan?»
    «Ich bin Gitan.»
    «Du kennst mich?»
    «Ich habe von dir gehört, Bürger.»
    Lächelnd wedelte Marchenoir mit der Zigarre über die Leichenteile auf dem Boden. «Du verrichtest niedere Arbeit, Gitan.»
    «Ein Mann ist heutzutage froh, wenn er Arbeit hat, Bürger.»
    Das schwere Gesicht mit den Hängebacken starrte den Zigeuner an, in dessen Worten fast Kritik an der Revolution gelegen hatte. Dann verzog Marchenoir seine unrasierten Wangen zu einem Lächeln, lachte und trat nach dem Sack. «Warum machst du das, Gitan?»
    «Der englische Lord möchte sie beerdigen.»
    «Soll er seine Drecksarbeit doch selbst machen. Bist du sein Sklave?»
    «Ich bin Pferdemeister.»
    «Und das ist eine Leiche.» Marchenoir trat über den Sack und betrachtete den Kopf auf dem Fensterbrett. «Sie hat lange gebraucht zum Sterben.»
    «Das hat Brissot gesagt.»
    «Brissot mit seinem ungewaschenen Maul. Eines Tages setze ich mich drauf und stopf’s ihm.» Marchenoir sprach ohne Zorn. «Ich habe sie zuerst ihnen überlassen. Sie haben von hier bis in den ersten Stock Schlange gestanden!» Er lehnte sich an die Wand, wodurch der obere Teil seines großen, roten Gesichts im Schatten lag. «Ich hätte von jedem zwei Livres verlangen sollen, was?»
    «Kein sehr revolutionärer Gedanke, Bürger.»
    Marchenoir lachte. Er war ein Anführer «der Linken», die so genannt wurden, weil sie auf der linken Seite der Nationalversammlung saßen. Sie waren die Revolutionäre, die die Monarchie abschaffen, die alten Privilegien aufheben und Frankreich zur Republik erklären wollten. Die Ereignisse der vergangenen zwei Monate hatten diesen Traum seiner Verwirklichung nähergebracht. Marchenoir blies eine Rauchwolke durch die Zelle. «Ich finde, wir sollten ein Volksbordell mit solchen Mädchen haben. Jede Hure eine Aristokratin. Damit könnten wir die Armee finanzieren.» Er betrachtete den Kopf der jungen Frau. «Glaubst du, sie hatte den Tod verdient, Pferdemeister?»
    «Wir sterben alle.» Gitan spürte erstaunt eine bedrängende Macht im Raum. Viele Male hatte er Marchenoir reden gehört, hatte ihn mit seinen kräftigen Armen die Menschenmenge dirigieren sehen, hatte gehört, wie seine Stimme ihren Zorn und ihre Hoffnungen weckte, und doch war er erstaunt über die schiere Wirkung dieses Mannes.
    Marchenoir gluckste über die unverbindliche Antwort. «Sie musste sterben, Gitan, aber warum? Das, mein Freund, ist mein Geheimnis.» Mit der Zigarre wies er auf den Zigeuner. «Ohne Blutvergießen kann nichts erreicht werden, nichts! Das hat selbst die Kirche gelehrt! Wenn wir Blut fürchten, fürchten wir das Leben! Stimmt es nicht, mein süßes Kind?», wandte er sich an den abgetrennten Kopf. Kichernd schob er den Zigarrenstumpen zwischen die toten Lippen. Er drehte sich zu dem Zigeuner um. «Ich wollte mit dir reden.»
    «Ich bin hier.» Selbst gegenüber einem so mächtigen Mann wie Marchenoir blieb der Zigeuner wortkarg und unabhängig, und doch war in seinem Betragen ein Hauch von Respekt, von Ehrerbietung. Marchenoir gehörte schließlich der neuen Regierung an.
    Marchenoir ließ sich an der hinteren Wand nieder. Er war ein außerordentlich schlampiger Mann, seine Kleider waren schmutzig, zerrissen und geflickt und wurden da, wo die Knöpfe abgegangen waren, von ausgefransten Schnüren zusammengehalten. Gitan, dessen schwarze Kleidung makellos war, sah die Essensreste und den Speichel auf der Jacke des Revolutionärs und dachte, dass ein solches Erscheinungsbild heutzutage ein entschiedener Vorteil der Ehrgeizigen war. Gewiss trug es zu Marchenoirs Anziehungskraft bei. Die Menschen betrachteten ihn als rau, schlagfertig, liebenswert und als ihresgleichen. Er sprach für sie und er tötete für
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