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Die dunkle Quelle

Die dunkle Quelle

Titel: Die dunkle Quelle
Autoren: Tobias O. Meißner
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allem ein Jungtier
gesehen, ein Mammutkind, das hier nirgendwo verzeichnet war. Auch hatten die
Jäger in seinem Traum anders ausgesehen. Einer von ihnen hatte etwas
Merkwürdiges in Händen gehalten, aber Rodraeg konnte sich nicht mehr erinnern.
Je fester er den Traum zu fassen suchte, desto mehr verflüchtigte er sich.
    Er trank den letzten
Schluck aus seiner Tasse. Gedankenverloren blickte er vor sich hin. Nur langsam
stellte sich sein Blick ein auf das Fenster, auf die Spiegelung des
Schreibleuchters darin, auf sein eigenes vor dem Dunkel der Nacht schwebendes
Gesicht – und die vermummte Gestalt dahinter.
    Rodraeg fuhr herum.
    Hinter ihm in der
Schreibstubentür stand jemand. Eine zierliche Gestalt in einem langen dunklen
Mantel, das Gesicht von einer Kapuze vollständig überschattet. Das konnte doch
nicht sein! Die Tür war abgeschlossen gewesen!
    Â»Entschuldigt bitte,
ich wollte Euch nicht erschrecken. Ihr seid Rodraeg Talavessa Delbane, nicht
wahr?«
    Rodraeg war völlig
überfordert. Zu viele Eindrücke auf einmal stürmten auf ihn ein. Die Stimme der
Gestalt war weiblich, wohlklingend und freundlich, was der Situation immerhin
die Bedrohlichkeit nahm. Das erklärte jedoch noch nicht, wie die junge Frau hier
hereingekommen war, geschweige denn, woher sie Rodraegs zweiten Vornamen
kannte, den er – soweit er sich entsinnen konnte – hier in Kuellen noch nie
jemandem genannt hatte.
    Ihm ging durch den
Kopf, etwas so Törichtes zu sagen wie: »Im Moment ist im Rathaus keine
Sprechstunde«, aber es war ziemlich unwahrscheinlich, daß dies der Frau nicht
bewußt war. Statt dessen waren die ersten Worte, die er an sie richtete: »Ihr
seid nicht von hier?«
    Â»Das ist richtig«,
sagte die junge Frau und streifte ihre Kapuze zurück. »Mein Name ist Naenn, und
ich komme ursprünglich aus dem Schmetterlingshain.«
    Sie war jung,
vielleicht zwanzig. Weizenfeldfarbene Haare, dunkle, große Augen. Bleich und ernst.
Von einer Schönheit, die nicht viel Aufhebens machte darum, daß sie selten war.
    Ein
Schmetterlingsmädchen. Rodraeg hatte viel von den Schmetterlingsmenschen
gehört, lebten sie doch auch hier, im großen, dunklen Wald von Larn, an dessen
südöstlichen Ausläufern der Larnus entsprang und die Gründer von Kuellen sich
angesiedelt hatten. Die Schmetterlingsmenschen waren eine Legende, ein Märchen.
Man sagte, sie könnten zaubern und auf Sonnenstrahlen wandeln. Sie seien schön
und voller Poesie, und das Herz eines Jünglings, der vom Weg abkam und einem
Schmetterlingsmädchen begegnete, sei auf immer verloren. Man sagte, es gäbe
mittlerweile nur noch wenige von ihnen, vielleicht einhundert, verborgen und
verbunden mit der Unergründlichkeit des großen, dunklen Waldes von Larn.
    Man sagte auch, sie
hätten die Schwingen von Schmetterlingen, die Stimmen von Singvögeln und die
Macht, Gedanken wahr zu machen.
    Rodraeg brachte im
Moment nicht mehr als ein verlegenes Schmunzeln zustande. »Ich … kann Euch
einen Tee anbieten. Er ist nicht mehr ganz heiß, aber ich könnte auch einen
neuen machen.«
    Â»Ich nehme gern von dem
hier, wenn es keine Umstände macht.«
    Â»Gut, dann …
setzen wir uns doch draußen in die Wartehalle. Hier drin ist es zu
ungemütlich.«
    Â»Es ist eigentlich eine
schöne Idee, daß nachts im Rathaus so viele Lampen brennen. Man kann das
Gebäude von draußen leicht finden.«
    Â»Ja.« Rodraeg räusperte
sich, legte die Encyclica auf seinen Schreibtisch,
nahm Glaskanne und Tasse und ging an ihr vorbei aus dem Raum. Naenn duftete
ähnlich den Wildrosen im Privatgarten des Bürgermeisters. Rodraeg war froh, ein
harmloses Thema zum Plaudern angeboten zu bekommen. »Die offizielle Version
lautet, daß der Bürgermeister wünscht, daß das Rathaus nachts leuchtet, damit
die Bürger von Kuellen sehen können, daß hier Tag und Nacht zu ihrem Wohl
gearbeitet wird. Die Wahrheit jedoch ist, daß der Bürgermeister nicht wünscht,
daß ein schlaftrunkener, überarbeiteter Schreiber hier nachts mit einem
Kerzenleuchter aus Versehen die Wandteppiche in Brand steckt, die überall
herumhängen.«
    Â»Verstehe.« Sie
lächelte freundlich.
    Rodraeg schlüpfte in
die Schreiberküche, angelte sich eine zweite Tasse und ging dann voran zur
Eingangstür. Hier war die Empfangshalle des Rathauses, auch
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