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Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda

Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda

Titel: Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
Autoren: Bianka Minte-König
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Finger stieß, von wo er sich nicht ganz so leicht wieder entfernen ließ. Er jammerte sofort heftig los, und so bot ich ihm an, ihn durch eine kleine Notoperation davon zu befreien. Die ging freilich nicht unblutig ab, weil der Haken nicht eben winzig war und der kleine Finger ja bekanntermaßen besonders heftig blutet, wenn er verletzt wird. Ich spüre noch ganz lebhaft, wie sich mir beim Anblick seines hellroten Blutes ganz plötzlich die Eingeweide zusammenzogen und ein Sehnen von mir Besitz ergriff, wie ich es zuvor noch nie erlebt hatte. Ich entfernte den Haken, und um das Blut zu stillen, nahm ich liebevoll seinen Finger in den Mund, denn Speichel sagt man ja eine blutstillende Wirkung nach. Aber kaum schmeckte ich sein Blut auf meiner Zunge, war es um mich geschehen. Kein Tier hatte jemals ein solches vibrierendes Begehren in mir ausgelöst wie das Blut dieses kleinen Jungen. Er war so zart und unschuldig und alles an ihm wirkte weich und sanft, und der Anblick seines lockigen, hellen Haares und der untröstliche Blick seiner blauen, in Tränen schwimmenden Augen berührten mich sehr.
    Aber zugleich erwachte zum ersten Mal das unheimliche Monster in meinem Inneren und stieg aus den dunklen Tiefen meiner Seele ans Licht des herrlichen Tages, um mit seinen schwarzen Schwingen die Sonne zu verdunkeln und sein Opferfest zu feiern.
    Es schlug mit spitz aus meinem Kiefer hervorwachsendenZähnen den Jungen wie ein Beutetier, labte sich an seinem Blut und versenkte anschließend den leblosen, fahlen Körper im See.
    Als ich irgendwann zu mir zurückfand und heimkehrte, bestaunte jedermann meine rosige, gesunde Gesichtsfarbe, nur meine Mutter wirkte beunruhigt und wollte wissen, wie ich den Nachmittag verbracht hätte. Ich konnte es niemandem erzählen, auch ihr nicht, denn was ich davon erinnerte, war grauenvoll und belud mich mit einer schrecklichen Schuld. Aber wenige Tage später warf meine Haut wässrige Blasen, als ich nur einen kurzen Augenblick in der Sonne stand, und ich fragte mich, welch schreckliche Krankheit sich durch das Blut des Jungen auf mich übertragen hatte.
    Da ich durch den Privatunterricht und das Lesen von Büchern nicht mehr ganz ungebildet war, wusste ich, dass der Mensch – auch wenn er es in Kriegen dennoch tat – andere Menschen nicht töten darf. Das ist Gottes Gebot und einleuchtendes Gesetz. So hatte ich nach dieser Tat ein sehr schlechtes Gewissen und betrachtete meine plötzliche Lichtallergie als gerechte Strafe. Sie veränderte mein Leben allerdings grundlegend. Fortan musste ich die Sonne und das helle Licht des Tages meiden und wurde so zu einem Geschöpf der Dämmerung und der Dunkelheit.
    Erst später begriff ich, dass ich mütterlicherseits ein unseliges Erbe in mir trug, welches durch meine erste menschliche Blutmahlzeit offenbar zum Ausbruch gekommen war.
     
    Müller-Wagners Stimme riss mich aus der Vergangenheit zurück in meine qualvolle Gegenwart.
    »Ein merkwürdiges Phänomen. Ich habe nie davon gehört, dass die Elektroschockmethode eine Lichtallergie hervorruft, zumindest nicht bei Tieren. Das ist hochinteressant,wir werden es beobachten. Bringt sie zurück in die Einzelzelle, dorthinein dringt kein Tageslicht. Elektrisches Licht scheint ihr ja nichts auszumachen.«
    Man schob mein Bett aus der Sonne und öffnete das Gitter.
    »Nun, wie fühlst du dich, mein Kind. Alles ist wunderbar verlaufen und du solltest keinen Drang mehr verspüren, wie ein Raubtier Menschen anzufallen und zu beißen.«
    Er tätschelte mir erneut die Wange, aber weil mir das wieder wie Feuer brannte, vergaß ich alles um mich her und biss getrieben von Panik und Schmerz in seine Hand.
    Er schrie vor Verblüffung leise auf, während mich sofort ein starker Pfleger zurückriss, auf das Lager warf und das Gitter über meinem Kopf erneut schloss.
    »Sie ist gemeingefährlich«, sagte er. »Man muss sie von den anderen Patienten separieren und sicher verwahren.«
    Der Professor nickte und hielt sich die Hand, von der ein wenig Blut auf seinen weißen Kittel tropfte.
    »Zu unserem und ihrem eigenen Schutz, befürchte ich.«
    Als er ging, hörte ich, wie er zu seinem Kollegen sagte:
    »Wir dürfen nicht ungeduldig sein, wir stehen erst am Anfang der Behandlung. Ich denke, es wird ein langer Weg bis zu ihrer Heilung.«
     
    Es war tatsächlich ein langer Weg, er dauerte mehr als ein Jahr und löschte mich nach und nach aus.
    Irgendwann galt ich als untherapierbar und war nicht mehr in der Lage,
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