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Die dreißig tolldreisten Geschichten - 2 (German Edition)

Die dreißig tolldreisten Geschichten - 2 (German Edition)

Titel: Die dreißig tolldreisten Geschichten - 2 (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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Holzstoßes. Sie wurde schließlich ergriffen, gebunden, auf einen Karren geworfen und zum Richtplatz geführt, ohne daß noch ein Laut aus ihrem Munde gekommen wäre.
    Ihre unbegreifliche und fast wunderbare Flucht aus der Kirche aber trug nur noch mehr zu dem Teufelsglauben des Volks bei, und viele sagten, sie sei in Wahrheit durch die Lüfte davongeflogen und habe nur einen elenden Leichnam an ihrer Stelle zurückgelassen.

     
    Als der städtische Henker sein Opfer in die Flammen warf, machte sie noch zwei oder drei verzweifelte Sprünge, dann brach sie über den lodernden Scheiten zusammen, die noch Tag und Nacht weiterbrannten. Am nächsten Abend ging ich hin, um zu sehen, ob von dem schönen, süßen Weibe noch etwas übriggeblieben war, aber ich fand nichts als ein paar Knochen von ihr, und ihr Schambein, das sich trotz des Feuers noch feucht anfühlte und zu zittern schien. Ich kann dir nicht sagen, mein Sohn, denn es ist in Worten nicht auszudrücken, was für eine finstre und dumpfe Traurigkeit während ganzer zehn Jahre auf meiner Seele lastete. Immer stand vor meinen Augen dieser Engel, den die verruchten Menschen also geschunden und zugerichtet hatten, immer sah ich voll Schmerz und Liebe ihre schönen Augen auf mich gerichtet: kurz, die übernatürliche Schönheit dieses liebreizenden Wesens umgaukelte mich als eine holdselige Erscheinung bei Tag und bei Nacht, und oft lag ich stundenlang in der Kirche, wo sie gemartert worden ist, und betete für ihre Seele. Nie konnte ich ohne Zittern und Beben den Großmeister und Ober-Strafrichter Jan van dem Haag ansehen, der später bei lebendigem Leibe von Würmern gefressen wurde. Der Aussatz hat diesen Richter gerichtet. Außerdem verzehrte eine Feuersbrunst sein Haus; seine eigne Frau und alle, die Hand an den Holzstoß der Mohrin gelegt, starben in den Flammen.
    Dieses, mein vielgeliebter Sohn, hat mich nachdenklich gemacht, und ich habe meine Gedanken niedergeschrieben, damit sie für alle Zeiten in unsrer Familie als Regel und Richtschnur des Lebens dienten.
    Ich verließ den Dienst der Kirche und heiratete deine nachmalige Mutter, die mich unaussprechlich glücklich machte und mit der ich alles teilte, mein Leben, mein Gut, meinen Leib und meine Seele. Sie stimmte auch vollkommen mit mir überein in den folgenden Lehren und Regeln der Weisheit. Diese aber sind:
    Um glücklich zu leben, ist es vor allem nötig, daß man nichts zu schaffen habe mit den Mitgliedern der Geistlichkeit. Erweise ihnen alle schuldige Ehrfurcht, aber laß sie nie dein Haus betreten, sowenig wie alle diejenigen, die aus irgendeinem Grund, gerechtem oder ungerechtem, deine Vorgesetzten oder an Stand höher sind als du.
    Als zweites merke dir und mache dir zur unverbrüchlichen Regel, einen bescheidenen Stand zu wählen, darin zu verharren und allen Schein des Reichtums und der Wohlhabenheit zu vermeiden, um keines Menschen Neid herauszufordern. Hüte dich, irgendeinem Menschen zu nahe zu treten; denn man muß eine Eiche sein an Kraft und Stärke, die alle geringeren Pflanzen zu ihren Füßen tötet, um nicht das Opfer des Neids zu werden, den man erregt, und dann noch müßte man unterliegen, denn menschliche Eichen sind ein gar seltenes Gewächs, und kein Tournebouche soll sich jemals schmeicheln, eine Eiche zu sein, schon aus dem einfachen Grund, weil er ein Tournebouche, id est ein Schlinggewächs ist.
    Zum dritten merke dir: niemals mehr als ein Viertel deines Einkommens auszugeben, den Stand deines Vermögens zu verschweigen, deine Pläne und Absichten nicht an die große Glocke zu hängen und niemals Amt und Würden anzunehmen. Mache es dir zur Gewohnheit, in die Kirche zu gehen wie die andern und deine Gedanken für dich zu behalten, da sie ansonst nicht mehr dir, sondern den andern gehören, die Verleumdungen daraus spinnen und sich einen Mantel daraus machen, den sie nach dem Winde drehen.
    Viertens laß dir gesagt sein, im Gewerbe der Tournebouche zu verharren, als welche Tuchmacher sind und Tuchmacher bleiben sollen, jetzt und immerdar. Verheirate deine Töchter an ehrliche Tuchmacher und schicke deine Söhne in die Tuchmachereien der andern Städte des Königreichs. Gib ihnen diese weisen Vorschriften auf den Weg, daß sie sich redlich nähren in der Tuchmacherei und jeden ehrgeizigen Gedanken weit von sich weisen. »Tuchmacher wie ein Tournebouche« muß ihre Losung und ihr Ruhm sein, ihr Wappen und ihre Ehre, ihre Devise und ihr Leben. Indem sie also immer Tuchmacher
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