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Die dreißig tolldreisten Geschichten - 2 (German Edition)

Die dreißig tolldreisten Geschichten - 2 (German Edition)

Titel: Die dreißig tolldreisten Geschichten - 2 (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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zum Himmel schreien wird bis an den Jüngsten Tag.
    Damals wurde der genannte Kerkermeister abgesetzt, und der zweite Sohn des Folterknechts kam an seine Stelle. Dieser warf die Mohrin in einen finstern Kerker, beschwerte ihr in unmenschlicher Weise Hände und Füße mit fünfzig Pfund schweren Ketten und legte ihr einen hölzernen Gürtel um die Hüften. Das Gefängnis wurde von den Armbrustschützen der Stadt Tours und den Waffenknechten des Erzbischofs bewacht. Die Arme wurde gefoltert, und mit zerbrochenen Gliedmaßen, vom Schmerz überwältigt, sagte sie alles aus, was Herr Jan van dem Haag von ihr zu hören wünschte. Sie wurde verurteilt, unter dem Portal der Kirche, mit einem Hemd vom Schweltuch bekleidet, drei Tage öffentlich am Pranger zu stehen und hierauf am Hügel von Saint-Étienne auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden.

     
    Ihre ganze Habe sollte dem Kapitel anheimfallen et cetera. Dieser Urteilsspruch verursachte großen Aufruhr und Kriegslärm in der Stadt. Drei junge Ritter von Touraine schwuren, im Dienste des armen Weibs zu sterben und mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln ihre Befreiung zu erlangen. Sie kamen in die Stadt mit einer großen Schar von Kriegsleuten, begleitet von Tausenden alter Soldaten, Handwerkern, Kranken und Leidenden, die die besagte Mohrin vom Tode, vom Hunger errettet, die sie gepflegt, gekleidet, getröstet, denen sie in jeder Art Mißgeschick beigestanden. Immer größer wurde deren Anzahl, aus allen Winkeln der Stadt kamen sie hervor, denen die Mohrin sich einst hilfreich erwiesen, und unter der Führung der genannten Edelleute und ihrer Krieger versammelten sie sich eines Morgens und zogen, vermehrt durch eine große Menge Gesindels, das auf zwanzig Meilen im Umkreis zusammengelaufen war, auf die Höhe des heiligen Ludwig, von wo sie sich gegen das erzbischöfliche Gefängnis in Bewegung setzten und zu dessen Belagerung schritten. Stürmisch verlangten sie die Auslieferung der Mohrin, scheinbar, um sie zu töten, in Wahrheit aber, um sie zu befreien und sie auf einem bereitgehaltenen Renner das Weite gewinnen zu lassen; denn sie wußten, daß die besagte Mohrin reite wie ein Stallmeister.

     
    In diesem furchtbaren Aufstand wälzten sich mehr als zehntausend Menschen brüllend und johlend von der Brücke her gegen die Wälle und Gräben des erzbischöflichen Palastes, außer denen, die weithin auf Dächer und Zinnen geklettert waren, um den Spektakel mit anzusehen. Bis hinüber ans andere Ufer der Loire, bei St. Symphorion, konnte man das schreckliche Geschrei der Menge hören, von denen die einen in gutem Glauben den Tod der Hexe verlangten, die andern das Gefängnis stürmen wollten, um die Arme entkommen zu lassen. Das Gestoß und Gedränge war so fürchterlich in diesem wütenden und von dem zu vergießenden Blut der armen Mohrin bis zur Raserei aufgepeitschten Volkshaufen (die, wenn sie das Glück gehabt hätten, das wundersame Weib zu sehen, alle zu ihren Knien gesunken wären), daß sieben Kinder, elf Frauen und acht Bürger zerdrückt, unter die Füße getreten und wie zu Brei zerstampft wurden. Ganz entsetzlich waren die Schreie dieses schrecklichen Ungeheuers, dieses Leviathans, den man Volk nennt, dessen brüllende Stimme bis auf die Dörfer hinaus gehört wurde: »Heraus mit der Hexe!« schrie es, »liefert sie uns aus! – Reißt sie in Stücke! – Hierher! – Ich will ein Viertel von ihr! – Ich will ihr Haar! – Mir einen Fuß von ihr! – Mir den Kopf! – Mir ihr Ding! Ist es rot? – Darf man es sehen? Wird es gebraten werden? – Zum Tod mir ihr! – Zum Tod!« – Jeder sagte sein Sprüchlein. Aber der Ruf: »Gerechtigkeit Gottes! In den Tod mit dem Sukkubus!« wurde so einstimmig und in so wilder Raserei von der tobenden Menge herausgeschrien, daß einem das Herz hätte bluten können vor Erbarmen und das vereinzelte Rufe um Gnade völlig erstickt wurden. Um diesen furchtbaren Sturm, der alles niederzufegen drohte, zu besänftigen, hatte der Erzbischof den Einfall, in großer und feierlicher Prozession das Allerheiligste durch die Straßen zu tragen. Damit rettete er das Kapitel vor seinem Untergang. Denn das fahrende Volk wie auch die Junker hatten geschworen, alles zu zerstören, das Kloster niederzubrennen und die Chorherren zu erwürgen. Vor dem Venerabile aber wich die Menge zurück, die Anstauung der Masse löste sich auf, die meisten trieb der Hunger nach Hause.
    In der Nacht darauf aber hielten die Klöster, Bürger und
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