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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco
Autoren: Bernhard Jaumann
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stürzte, stürzte und stieg.
    Unzweifelhaft lebte der Drachen, er war ein Wesen aus Fleisch und Blut. Trotz seines Aussehens vermutete Vannoni, daß der Drachen ein Mensch war. Hätte er sonst eine Geschichte erzählen können? Vannoni verstand sie nicht ganz, wußte nicht einmal genau, ob das fliegende Wesen Minh oder den schwarzen Mann verkörperte, doch wahrscheinlich spielte das gar keine Rolle. Es war eine einzige Geschichte, in der alles untrennbar verschmolz. Vannoni wurde klar, daß der Drachen Minh nie mehr loslassen würde. Und umgekehrt. Man konnte nur auf ein Wunder hoffen.
    Vannoni legte den Arm um Catias Schulter. Er wünschte sich, daß die Leinen rissen, damit der verdammte Drachen abstürzte und auf dem Boden zerschmetterte. Das Gestänge sollte zerbröseln, die Bespannung in kleine Fetzen zerrissen werden, die der Wind weit forttragen sollte, so daß nichts mehr blieb von Schlangenhaaren, glühenden Augen und dem ganzen nachtschwarzen Wesen. Und mit ihm sollte alles vergehen, was die Seele des Jungen verdüsterte.
    Die Leinen rissen nicht, der Drachen landete sicher. Sanft setzte er auf, legte den Schwanz aufs Feld, senkte den Kopf und schlief mit offenen rotglühenden Augen ein. Minh ging langsam auf ihn zu und spulte dabei eine der Leinen auf. Die Zuschauer rührten sich nicht. Es herrschte eine unheimliche Stille, nur der Wind pfiff im Vorüberziehen ein fremdes Lied.
    Endlich knackte der Lautsprecher, und Ivan Garzone räusperte sich. Seine Stimme klang trotzdem belegt, als er sagte: »Die Jury hier hinter mir ist zu einem Ergebnis gekommen. Ich glaube, es wird niemanden überraschen, daßwir soeben den Gewinner unseres Drachenwettbewerbs gesehen haben. Herzlichen Glückwunsch an Minh Son Vannoni aus Montesecco!«
    Irgendwo begann jemand zu klatschen.
    Seit jenem Abend in Rom ließ sich Benito Sgreccia nicht mehr sehen. Er antwortete auch nicht, da konnte Gianmaria Curzio bitten und provozieren und hinterhältige Fangfragen austüfteln, soviel er wollte. Es schien fast, als sei Benito nun endgültig tot. Ein paarmal ging Curzio noch auf den Friedhof, las die Inschrift auf der Marmorplatte und stellte eine Kerze auf, aber es war nicht mehr so wie zuvor. Noch immer hätte er gern gewußt, ob jemand bei Benitos Tod nachgeholfen hatte und, wenn ja, wer. Doch wirklich dringlich war die Frage für ihn nicht mehr. Er wollte eigentlich nur eine Sache abschließen, mit der er sich so lange beschäftigt hatte. Erstaunt stellte er fest, daß er dennoch mit sich und Benito im reinen war. Oder gerade deshalb?
    Was Curzio eines kalten Apriltags dazu veranlaßte, aufs Pfarrhausdach hinauszutreten, wußte er selbst nicht genau. Immer noch stand dort der Liegestuhl, in dem Benito gestorben war. Curzio rückte ihn ganz an die Brüstung vor, zog sein Halstuch fester, knöpfte die Jacke bis oben hin zu und setzte sich. Unter ihm lag Montesecco. Eng an eng zogen sich die Häuser den Hang hinab. In den meisten war noch einmal eingeheizt worden, vielleicht zum letztenmal, bevor sich der Frühling endgültig durchsetzte. Die Rauchfahnen flohen waagrecht aus den Schornsteinen. Darunter krallten sich die Dächer ineinander, als könnten sie nur so verhindern, daß der steife Wind eines aus ihrer Mitte entführte.
    Curzio fragte sich, worauf Benito geachtet haben mochte, bevor er hier gestorben war. Woran er sich wohl erinnert hatte. Wie die kleine Lidia Marcantoni dort unten vor Schreck von der Mauer gesprungen war, als sie ihreinen lebenden Frosch zuwarfen? Wie die Amerikaner mit der ersten Artilleriesalve, die sie auf Montesecco abfeuerten, den Wasserturm zerstörten? Wie gerade rechtzeitig zur Fußballweltmeisterschaft 1966 der erste Fernseher nach Montesecco kam und die ganze Einwohnerschaft sich im Salotto der Lucarellis drängte, nur um die schmähliche Niederlage der Azzurri gegen Nordkorea miterleben zu müssen? Wie der von drei Vipern gebissene Paolo Garzone über die Piazza torkelte und vergeblich versuchte, seinen Lieferwagen zu starten? Wie sie beide, Benito Sgreccia und Gianmaria Curzio, am Holzkreuz vor dem Ort saßen, Grappa tranken und übers Land schauten?
    Oder war das alles nicht mehr wichtig gewesen? Hatte Benito vielleicht nur zugehört, wie der Wind durch die Gassen heulte, und sich von ihm die Haut massieren lassen? Versuchsweise schloß Curzio seine Augen. Aus dem Dunkel tauchten ein paar Bilder auf. Fabriken, die längs der Autobahn entlangzogen. Braunes Tiberwasser, das unberührt vom
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