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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco
Autoren: Bernhard Jaumann
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der Außenwelt abgeschnitten war.
    Als der Schnee endlich schmolz, versank man in grundlosem Schlamm, sobald man sich mit einem Fuß vom Asphalt wagte. Die Erde geriet in Bewegung. Böschungen rutschten ab und verstopften Abzugsgräben, halbe Straßen brachen weg, und das vom Hang abgehende Geröll verwandelte Lidia Marcantonis Gemüsegarten in eine Endmoränenlandschaft. Doch all das überstand man irgendwie.
    Der Frühling kam spät, aber noch rechtzeitig, um für das lange angekündigte Drachenfestival von Montesecco angenehme äußere Bedingungen zu gewährleisten. Nach Ivan Garzones fachmännischer Einschätzung wären im Herbst zwar stabilere Windverhältnisse zu erwarten gewesen, aber so lange wollte niemand warten. Windstärken zwischen drei und vier, wie sie Angelo Sgreccia mit seinem fast neuwertigen Anemometer ermittelte, würden für die Wettbewerbe um den schönsten flugfähigen Drachen und den am weitesten fliegenden Einleiner durchaus genügen. Als Hauptpreise wurden in der ersten Kategorie einTraumurlaub für zwei Personen und in der zweiten eine Fesselballonfahrt ausgelobt. Gestiftet hatte sie ein Mailänder Börsenmakler, der sich Gianmaria Curzio irgendwie verpflichtet fühlte.
    Auch sonst hatte das Organisationskomitee, dem praktisch ganz Montesecco angehörte, gute Arbeit geleistet. Mit dem Einverständnis der Polizei wurden die Zufahrtsstraßen weiträumig abgesperrt. Zwei große Wiesen – die eine an der Mühle im Cesano-Tal, die andere etwa anderthalb Kilometer von Montesecco entfernt an der Straße nach Pergola – wurden als Parkplätze gekennzeichnet, von denen ein Shuttle-Service bis zum Ortseingang verkehrte. Die Kommune Pergola hatte dafür zwei Schulbusse zur Verfügung gestellt, da diese am Sonntag sowieso nicht benötigt wurden.
    Über allen Dächern Monteseccos flatterten himmelblaue Fahnen mit der Aufschrift »1. Festa dell’aquilone«, und die Fassade des Palazzo Civico wurde von einem riesigen Transparent verdeckt, auf dem zu lesen stand: »Montesecco – Königin der Lüfte«. Rund um die Piazza waren Essensstände aufgebaut, die von Porchetta über unterschiedlich belegte Piadine bis hin zu Tagliatelle al tartufo alles anboten, was man von einer erstklassigen Sagra erwarten konnte. Aus Mangel an eigenen Kapazitäten hatte man auf auswärtige Anbieter zurückgreifen müssen, doch harte Vorverhandlungen, ein ausgeklügeltes Bonsystem und die Beschränkung auf eine einzige zentrale Kasse, die Lidia Marcantoni argusäugig überwachte, würden schon dafür sorgen, daß ein Großteil des Gewinns in Montesecco blieb.
    Marta Garzone bewirtete auf der Piazzetta. Vor dem ehemaligen Pfarrgarten war dort eine Bühne aufgebaut, auf der nach der Siegerehrung die Band »Romagna mia« zum Tanz aufspielen würde. Im alten Pfarrhaus hatte ein pensionierter Lehrer aus San Lorenzo eine Ausstellung zur Geschichte des Drachens eingerichtet, die nicht nur vonden Anfängen im China des fünften vorchristlichen Jahrhunderts bis zum Gibson Girl der amerikanischen Air Force reichte, sondern auch technische Aspekte des Mehrleinendrachenfliegens sowie die künstlerische Verarbeitung des Themas, zum Beispiel im berühmten Gedicht Giovanni Pascolis, streifte. Das Unterfangen war vielleicht ein wenig zu ambitioniert, die Auswahl der Ausstellungsstücke ein wenig beliebig, doch eingedenk der Idee, Montesecco eine umfassende corporate identity zu verleihen, war das Komitee zu dem Schluß gekommen, auf den kulturellen Aspekt keineswegs verzichten zu dürfen. Etwas Kulturelleres als eine Ausstellung war niemandem eingefallen, und da der pensionierte Lehrer einen sehr vernünftigen Kostenplan vorlegte, hatte man ihm freie Hand gelassen.
    Die Vorfinanzierung des Drachenfestivals hatte sich insgesamt als schwierig erwiesen. Zwar war Benitos Erbe freigegeben worden, doch das Vermögen hatte sich schneller in Luft aufgelöst, als man schauen konnte. Anwaltskosten fielen an, Hypothekarsteuer, Katastersteuer, diverse Gebühren und die Bestechungsgelder, die nötig waren, um den Vorgang so zu beschleunigen, daß man für das Mafiadarlehen nicht auch noch einen vierten Monat Zinsen entrichten mußte. Da das Lösegeld trotz aller Nachforschungen nicht mehr auftauchte, mußte Angelo Sgreccia die zwei Millionen Darlehen plus die Zinsen in Höhe von drei Millionen aus dem Erbe zurückzahlen. Auf Nachverhandlungen verzichtete er, als er die beiden Mafiosi erblickte, die wegen der Schneeverwehungen erst einen Tag nach dem
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