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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco
Autoren: Bernhard Jaumann
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und drückte ihn an sich. Das Griffstück, an dem die Leine befestigt war, fiel ins Gras, der rote Drachen trudelte im Wind und stürzte hangabwärts zu Boden. Matteo Vannoni blieb stehen, als er sah, wie sich Sabrina Lucarelli aus dem tiefen Gras erhob. Sie hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihr Gesicht war bleich. Unter einer Jeansjacke trug sie einen engen weißen Pulli mit V-Ausschnitt. In der rechten Hand hielt sie ein Messer. Die Klinge war dreißig Zentimeter lang und dunkel verkrustet. Der Wind blies. Krachend schlug ein Fensterladen am verlassenen Haus der Bennis. Antonietta klammerte sich an Vannonis Arm.
    »Sabrina?« fragte Vannoni.
    »Solltest du nicht in der Uni sein?« fragte Sonia Lucarelli.
    »Wieso bist du vor uns hier gewesen?« fragte Ivan Garzone.
    »Was ist das für ein Messer?« fragte Milena Angiolini.
    »Was tust du hier?« fragte Franco Marcantoni.
    »Hallo, Mama«, sagte Sabrina. Sie lächelte verloren. Antoniettas Körper schwankte. Vannoni stützte sie. Das Haus der Bennis stand seit Ewigkeiten leer. An seiner Tür hing eine glänzende, nagelneue Eisenkette mit Vorhängeschloß. Das nächste Haus war so weit entfernt, daß man brüllen konnte, wie man wollte, ohne daß es jemand hörte. Die Dorfbewohner rührten sich nicht. Sie sahen Sabrina und das Messer, sie sahen den Jungen und das verlassene Haus. Sie wußten Bescheid.
    »Gib mir das Messer!« sagte Milena Angiolini leise.
    »Mach jetzt keine Dummheiten!« sagte Franco Marcantoni.
    Catia drückte ihren Sohn gegen die Brust und wich langsam ein paar Schritte zurück.
    Sabrina lachte und sagte: »Was denkt ihr von mir? Ich könnte nie jemanden umbringen. Ich bin doch kein Mörder!«
    »Das Messer!«
    Sabrina faßte es an der Klinge und streckte den Messergriff Milena Angiolini entgegen.
    »Du hast auch den Schlüssel?« Mit einer Kopfbewegung deutete Angelo Sgreccia auf die Tür des verlassenen Hauses.
    Wortlos fingerte Sabrina den Schlüssel aus der Brusttasche ihrer Jacke.
    »Und mein altes Handy?« fragte Gianmaria Curzio.
    Sabrina hatte es in der Seitentasche ihrer Jacke.
    »Das Lösegeld?«
    Sabrina schüttelte den Kopf.
    »Wir müssen die Polizei rufen«, sagte Marisa Curzio. Sie wählte auf ihrem Handy die 113, während Lidia Marcantoni begann, ein Vaterunser vor sich hin zu murmeln. Antonietta hatte noch kein Wort gesagt. Jetzt wandte sie sich von ihrer Tochter ab und ging. Sie stapfte durch das hohe Gras den Hügelkamm entlang.
    Sabrina sah ihr mit unbewegtem Gesicht nach. Dann sagte sie: »Wißt ihr …«
    Was ich bei der ganzen Geschichte am meisten zum Lachen finde? Daß ich nicht selbst auf die Idee gekommen bin, den Jungen zu entführen. Später ergab eines das andere, aber ihr habt den Stein ins Rollen gebracht. Jetzt gebt ihr euch entsetzt über mich, tut so, als läge das alles jenseits eurer Vorstellungskraft, und doch war es umgekehrt. Für euch war die Entführung schon Tatsache, als ich noch nicht einmal daran dachte. Ihr habt sie so lange beschworen, bis der Gedanke langsam auch in mir Wurzeln schlug. Ihr habt sie herbeigeredet. Und das kam nicht von ungefähr. Nein, ihr wart überzeugt, daß eure ganze schöne Ordnung zusammenbrechen muß, wenn nur genug Geld auf dem Spiel steht. Daß sich jeder eurer Nachbarn dann in einen eiskalten Verbrecher verwandeln kann. Das leuchtete euch ein, weil ihr die Gier in euch selbst entdeckt hattet, die Rücksichtslosigkeit, das nicht zu zähmende Verlangen, im Geld zu schwimmen, und müßte man dafür auch über Leichen gehen.
    Ihr meint, es wäre beim Gedanken geblieben, vor der Tat wärt ihr zurückgeschreckt? Möglich. Es würde zu euch passen. Die Inkonsequenz, die Feigheit, das dumpfe Warten darauf, daß ein anderes Leben irgendwann vom Himmel fallen möge, die Unfähigkeit, sich vorzustellen, daß man dafür etwas tun kann. Warum seid ihr sonst noch hier in Montesecco? Hört ängstlich zu, wie das Gebälk knirscht? Schmiert Tünche über die Risse in den Mauern? Tretet die immer gleichen Stufen aus, wenn ihr von der Piazza zur Bar und von der Bar zur Piazza geht? Redet lang und breit von irgendwelchen Projekten, die ihr nie verwirklichen werdet? Erzählt euch Geschichten, die jeder schon hundertmal gehört hat? Wartet darauf, daß der nächste stirbt, und habt keine Ahnung, warum ihr eigentlich hofft, daß es nicht ihr selbst seid?
    Aber vielleicht unterschätze ich euch auch. Man kann in einen Menschen nun mal nicht hineinsehen. Vielleicht hättet ihr viel
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