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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco
Autoren: Bernhard Jaumann
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auf dem Messer war eingetrocknet. Trotzdem hatte ich Angst, mir die Kleider zu verderben, denn Blut kriegt man nie mehr heraus. Ich hielt das Messer in der rechten Hand. Der Junge beachtete mich nicht. Er tat ein paar schnelle Schritte gegen den Wind, und schon sprang der Drachen aus dem Gras auf, wackelte kurz mit den seitlichen Spitzen und schwang sich ein paar Meter über den Boden. Der Junge zog zweimal an, gab Leine nach. Noch fünf Minuten. Höchstens. War nicht schon Motorengeräusch von der Abzweigung her zu hören?
    »Wer hat dich entführt?« fragte ich.
    »Der schwarze Mann.« Der Junge starrte auf die rote Papierraute in der Luft.
    »Der mit den feuersprühenden Augen?«
    Der Junge nickte abwesend.
    »Beschreibe ihn mir!«
    »Er war ganz schwarz angezogen und trug eine Maske über dem Gesicht, aus der die Augen hervorglühten.« Der Junge sagte seinen Spruch mechanisch auf. Als würde ein Tonband in Gang gesetzt, sobald man ihm das passende Stichwort lieferte. Das mußte nicht unbedingt ein Nachteil sein. Die Frage war nur, ob er dabei blieb, wenn sie ihn unter Druck setzten. Wenn seine Mutter ihm etwas vorheulte und die Polizeipsychologen ihre schmutzigen Tricks auffuhren. Dem würde er nicht gewachsen sein. Er war ja nur ein kleiner Junge.
    Nur ein kleiner Junge. Herrgott, es ging um sein Leben oder meines! Mit dem Unterschied, daß ich jahrzehntelang im Knast dahinvegetieren würde, während für ihn in ein paar Sekunden alles vorbei wäre. Ein schneller Schnitt durch den Hals, das ungläubige Staunen in den Augen, ein Röcheln, das Zusammensacken – er selbst hatte es mir vorgemacht. Was er konnte, konnte ich auch. Ich hatte verdammt noch mal keine andere Wahl!
    »Komm her, Junge!«
    Mit dem Rücken voran tappte er auf mich zu. Der Drachen stieg höher. Das rote Papier leuchtete im Sonnenlicht. Wenn nur das Blut nicht wäre! Der Junge blieb stehen. Ich trat direkt hinter ihn und legte ihm die linke Hand auf die Schulter. Ich spürte, wie er die Leine handhabte. Schräg über uns wirbelte der Drachen im Kreis herum. Der Messergriff brannte sich in meine rechte Hand. Das Motorengeräusch war nicht mehr zu überhören. Drei, vier Autos quälten sich den Feldweg herauf. Gleich waren sie da.
    Sein Leben oder meins. Ein schneller Schnitt. Und nichts wie weg! Ich würde seitwärts in die Büsche abtauchen, mich zu Fuß nach Pergola durchschlagen und dort mein Auto bei der Polizei als gestohlen melden. Sie würden mich nie kriegen. Nicht, wenn der Junge ein für allemal verstummte. Meine Hand zitterte. Ich mochte die Messerklinge nicht ansehen. Die schmutzigbraune Kruste auf dem Stahl. Der Drachen gaukelte nun wie ein Schmetterling im Wind, tanzte seltsam eckige Figuren vor, als wolle er eine Botschaft in den Himmel schreiben. Meine Mutter hatte mir früher mit dem Finger Buchstaben auf den Rücken gezeichnet, und ich mußte herausfinden, welches Wort sie bildeten. Der Drachen brüllte im Wind, aber ich verstand nicht, was er sagte.
    Ich mußte den Jungen umbringen. Jetzt oder nie. Sobald ich es schaffte, das Messer anzuheben. Es ging nicht. Der Drachen bog weit nach links aus, beschrieb einen sanften Bogen nach unten, der in einem gegenläufigen Schlenker endete. Ein G? Ein G wie in »Gib auf«? Ich konnte es nicht tun. Ich war kein Mörder. Ein G wie in »Gefängnis«? Aus den Augenwinkeln sah ich das erste Auto um die Kurve biegen. Ein G wie in »Gott sei Dank ist alles vorbei«? Ich befahl meinen Fingern, das Messer loszulassen, doch sie gehorchten mir nicht mehr. Als wären sie mit dem Griff verschmolzen. Ich ging in die Hocke und legte mich rücklings ins Gras. Der Drachen stieg und stieg. Über ihm zogen vereinzelt ein paar Wolken dahin.
    Undramatischer konnte sich die Befreiung eines Entführten nicht anlassen. Es mußten keine Schlösser geknackt, keine Türen gesprengt, keine Fesseln durchschnitten werden. Eigentlich wurde gar niemand befreit, denn Minh konnte sich offensichtlich völlig ungehindert bewegen. Wenn man nicht gewußt hätte, was geschehen war, wäre man nie auf die Idee gekommen, daß der Junge, der dort, seelenruhig und ohne sich umzuwenden, seinen Drachen dirigierte, entführt worden war. Irgend etwas stimmtenicht. Hätte der Junge nicht jubeln oder weinen oder sonstwie reagieren müssen?
    Vielleicht verlangsamten die Dorfbewohner deswegen ihre Schritte, nachdem sie voller Hast aus den Autos gestürzt waren. Nur Catia eilte, ohne zu zögern, auf ihren Sohn zu, nahm ihn in die Arme
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