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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco
Autoren: Bernhard Jaumann
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weniger Skrupel gehabt, wenn ihr an meiner Stelle gewesen wärt und euer weiteres Leben auf dem Spiel gestanden hätte. Für euch ist doch alles so einfach. Schwarz oder weiß. Er oder ich? Sagt ehrlich: Wie hättet ihr euch entschieden? Ihr hättet doch den Jungen unbarmherzig abgeschlachtet. Schon weil ihr gar nicht die Phantasie habt, euch eine andere Lösung auszudenken. Ich habe ihn nicht getötet! Ich habe mehr als das Menschenmögliche getan, um ihn zu retten. Ich habe mich in ihn hineinversetzt. Mich auf ihn eingelassen.
    Von Anfang an habe ich ihn verstanden. Ich habe ihn unterstützt, als er abhaute, ihm zugeredet, daß er im Haus des Americano untertauchen solle. Wer hätte besser als ich nachvollziehen können, daß er die Nase von euch und diesem Montesecco-Mief voll hatte? Ich glaube, ich kenne ihn besser als er sich selbst. Und wahrscheinlich kenne ich auch euch besser als ihr selbst. Die Abgründe, die ihr bei euch nicht wahrhaben wollt, in die ihr aber entsetzt und genüßlich blickt, wenn sie sich bei einem anderen auftun. Jetzt verdammt ihr mich, aber glaubt mir, ihr wolltet genau das, was ihr bekommen habt!
    »Wißt ihr, daß ich euch satt habe? Euch und das ganze Montesecco. Bis hier oben hin!« Sabrina machte in Höhe des Halses eine waagrechte Handbewegung. Es sah aus, als wolle sie sich die Kehle durchschneiden und habe nur vergessen, daß sie das Messer nicht mehr in der Hand hielt. Niemand antwortete. Was gab es schon zu sagen? Vannoni holte den abgestürzten roten Drachen. Die Querstrebe war gebrochen, doch das konnte man leicht reparieren. Minh weinte nicht. Ab und zu schüttelte er den Kopf, wenn Catia ihn fragte, ob er Hunger habe oder ob ihm kalt sei. Die meiste Zeit aber plapperte sie aufmunternd auf ihn ein, erzählte – unterstützt von Franco und Ivan – lustige Geschichten, schlug Ausflüge vor, die sie zusammen unternehmen wollten, und malte in glühenden Farben aus, wie schön nun alles werden würde.
    Die Entführung wagte niemand anzusprechen, bis die Polizisten eintrafen. Sie kamen mit einem lächerlichen Streifenwagen und gaben sich äußerst skeptisch, als ihnen ein paar der Dorfbewohner die Ereignisse auseinandersetzten. Immerhin gelang es, sie so weit zu überzeugen, daß sie Sabrina Lucarelli befahlen, sich in den Streifenwagen zu setzen. Einer der Polizisten funkte die Kriminaler an und ließ sich dann von allen Anwesenden die Personalien geben. Der andere trat zu Minh, versuchte vergeblich, ihm mit ein paar lockeren Sprüchen ein Lächeln zu entlocken, und sagte dann, daß Minh keine Angst mehr zuhaben brauche, denn nun sei ja die Polizei da und werde ihn beschützen. Minh klammerte sich an Catia.
    Der Polizist deutete auf den Streifenwagen. »Hat dir die Frau dort irgend etwas Böses getan?«
    Minh schüttelte den Kopf.
    »Aber sie hat dich entführt?«
    »Nein.«
    »Sie hat dich nicht in dem Haus hier eingesperrt?«
    »Nein«, sagte Minh. »Das war der schwarze Mann.«
    »Der schwarze Mann?«
    »Er war ganz schwarz angezogen und trug eine Maske über dem Gesicht, aus der die Augen hervorglühten.«
    »Aha«, sagte der Polizist. »Und wo ist er jetzt, dieser schwarze Mann?«
    Wortlos zeigte Minh auf das verlassene Haus. Vor der Tür hing eine Eisenkette. Der Polizist nestelte am Holster und zog seine Dienstwaffe hervor.
    »Vor dem schwarzen Mann brauchst du keine Angst mehr zu haben«, sagte Minh. »Ich habe ihn umgebracht.«
    So fanden sie den toten Körper des Privatdetektivs Michele, den Ivan Garzone beauftragt hatte, das Lösegeld wiederzubeschaffen. Er lag in einem eingetrockneten See von Blut. Quer über seinen Hals klaffte eine tiefe Schnittwunde. Seine Augen waren weit aufgerissen. Aus ihnen sprach die Überzeugung, daß in der Welt vieles, aber doch nicht alles möglich sei. Denn sonst müßte sie vor Entsetzen über sich selbst schon längst aufgehört haben, sich weiterzudrehen.

8
Bora
    Der Winter war einer der kältesten, die Montesecco je erlebt hatte. Drei Tage vor Weihnachten setzte die Bora ein und blies einundzwanzig Tage lang. Die eisigen Luftmassen aus Sibirien stürzten die kroatische Küste hinab und luden sich über dem Adriatischen Meer mit Feuchtigkeit auf, die sie an den Osthängen des Apennin wieder abschneiten. Niemand konnte sich an solche Mengen von Schnee erinnern. Die Dächer mußte man freischaufeln, damit sie nicht eingedrückt wurden. Selbst die Räumfahrzeuge der Gemeinde blieben stecken, so daß Montesecco mehrere Tage lang von
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