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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco
Autoren: Bernhard Jaumann
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keinem Blick aus und freute sich so aufrichtig über den Besuch, daß man keinen Hauch von Schuldbewußtsein vermuten konnte.
    Doch jedesmal und ohne daß sie es verhindern konnte, schob sich vor Antoniettas Augen jenes schreckliche Bild, als Sabrina mit dem Messer in der Hand aus dem Gras aufgestanden war und schwach »Hallo, Mama« gesagt hatte. Und da wußte Antonietta wieder, was sie damals mit tödlicher Sicherheit erspürt hatte: daß diese junge Frau ein grausames Verbrechen begangen hatte. Nur mit größter Mühe hielt Antonietta die sechzig Minuten Besuchszeit durch, und wenn sie endlich draußen war, dauerte es noch Stunden und Tage, bis die Schauder verblaßten und sie wieder bereit war, Sabrina als ihre Tochter anzuerkennen. In der folgenden Woche begann alles von vorne.
    Sabrina wurde mit der Zeit mutiger, sagte, daß sie nicht verstehe, warum man dem Jungen nicht glaube. Er sei schließlich der einzige Augenzeuge. Ihrer Meinung nach ließen die Umstände durchaus vermuten, daß der Privatdetektiv Minh entführt habe, auch wenn Ivan ihn erstdeutlich später nach Montesecco gerufen habe. Nein, sie könne nicht erklären, wie das zusammenpasse, aber das sei ja wohl Aufgabe der Kriminalpolizei.
    Diese glaubte Sabrinas Rekonstruktion zunehmend weniger und war wohl insgeheim von ihrer Schuld überzeugt, obwohl die handfesten Ermittlungsergebnisse im großen und ganzen für Sabrinas Darstellung sprachen. Einzig die Tatsache, daß sich auf der Kühlerhaube ihres Wagens Fingerabdrücke des Privatdetektivs fanden, ließ die Fahnder auf einen Durchbruch hoffen. Wenn sie nachweisen konnten, daß sich Sabrina schon lange vor dem Mord am Tatort befunden hatte, kippte ihre Geschichte. Wie alt die Fingerspuren waren, konnte jedoch nicht festgestellt werden. Da Michele während seines Aufenthalts in Montesecco oft genug Sabrinas Auto passiert haben mußte, war nicht auszuschließen, daß er sich irgendwann einmal auf der Motorhaube abgestützt hatte. Sonst blieb nur, daß Sabrina Lucarelli an der Uni praktisch überhaupt nie gesehen worden war, obwohl sie angeblich jeden Tag dorthin aufgebrochen war. Aber das würde für eine Verurteilung natürlich keineswegs ausreichen.
    »Wenn das Kind bei dieser Geschichte vom schwarzen Mann bleibt«, hatte der Staatsanwalt gesagt, »wird Sabrina Lucarelli aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden.«
    Bis jetzt beharrte Minh auf seiner Geschichte. Man mußte Geduld mit ihm haben. Ihm Zeit geben, über die Schrecken, die er erfahren haben mußte, hinwegzukommen. Und ihm beistehen, wann immer er das zuließ. Sie hatten alle mitgeholfen, als Minh sich wie versessen auf die Drachenbastelei stürzte. Nicht eines, sondern zwölf unterschiedliche Modelle waren so in den vergangenen Monaten entstanden.
    Ivan Garzone hatte sich zum Aerodynamikexperten fortgebildet und darüber hinaus eine neue Gleitkonstruktion für die Drachenwaage entwickelt, mit der man den Anstellwinkel zum Wind während des Flugs verändernkonnte. Seiner Meinung nach würde diese Vorrichtung den Drachensport revolutionieren, da sie es erlaubte, das Verhältnis von Zugkraft und Auftriebskraft je nach Windstärke, gewünschter Geschwindigkeit und geplanten Flugmanövern einzustellen. Die Pläne hatte Ivan unverzüglich beim Europäischen Patentamt in München eingereicht. Obwohl eine Antwort noch ausstand, plante er bereits, eine Firma zu gründen, um baldmöglichst in Serienproduktion zu gehen. Da die Banken von seiner Geschäftsidee nicht zu überzeugen waren und Kredite hartnäckig verweigerten, stand die Finanzierung leider noch in den Sternen.
    Die anderen Dorfbewohner hatten einfachere Aufgaben übernommen. Es gab kaum jemanden, der nicht mit Minh zusammen Pläne gezeichnet, Gestänge zusammengebaut, Bespannungen zugeschnitten oder den Pinsel geschwungen hätte. Donato, der durch seinen Posten in der kommunalen Bauabteilung gute Verbindungen besaß, hatte so reichlich Material beschafft, daß man es sich leisten konnte, die Bruchfestigkeit von Bambus-, Aluminium-und Glasfiberrohren experimentell zu überprüfen. Am Ende war ein Dutzend Kunstwerke entstanden, für die die Bezeichnung »Drachen« fast zu armselig klang.
    Minh hatte für den Wettbewerb einen selbstentworfenen, entfernt an klassisch asiatische Vorbilder erinnernden Mehrleiner ausgewählt. Vergeblich hatte Vannoni ihm Alternativen schmackhaft zu machen versucht, die weniger an alptraumhafte Fabelwesen erinnerten. Der drei Meter lange, schlangenartige
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