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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel
Autoren: Colleen McCoullough
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schüttelte er sie.
    »Nun weine nicht mehr! Komm schon - jetzt sind sie ja weg, und deine Puppe werden sie nie wieder anfassen, das verspreche ich dir. Und nun lächle mich mal an. Ist heute doch dein Geburtstag, nicht?« Die Tränen strömten ihr über die Wangen, und sie blickte Frank aus grauen Augen an, die so groß und so voller Tragik waren, daß er fühlte, wie es ihm die Kehle zuschnürte. Er zog einen schmutzigen Lappen aus seiner Hosentasche, wischte ihr damit ungeschickt übers Gesicht, hielt dann ihre kleine Nase zwischen dem Stoff. »Schnauben!«
    Sie tat es und bekam dann, während ihre Tränen trockneten, einen Schluckauf. »Oh, Fra-Fra-Frank, die ha-ha hatten mir Agnes wegge-no-no-nommen!« Heftig sog sie die Luft durch die Nase. »Ihr Haa-Haa-Haar fiel herab, und sie verlo-lo-lor all die hübschen, deinen Per-Per-Perlen, die da drin wa-wa-waren. Sie sind alle ins Gra-Gra-Gras gefallen, und ich kann sie nicht finden!«
    Wieder stürzten Tränen aus ihren Augen, fielen Frank auf die Hand. Ein oder zwei Sekunden blickte er auf seine feuchte Haut, dann leckte er die Tropfen ab. »Na, dann müssen wir sie ja finden, nicht? Aber du kannst nichts finden, wenn du weinst, weißt du, und was soll eigentlich diese Babysprache? Seit einem halben Jahr habe ich nicht mehr gehört, daß du >tlein< statt >klein< sagst! Hier, schnaub dir noch mal die Nase, und dann heb sie auf, die arme ... Agnes? Wenn du ihr nicht ihre Sachen anziehst, bekommt sie ja einen Sonnenbrand.« Auf seine Aufforderung setzte sie sich an den Wegrand. Er schob ihr sacht die Puppe in die Arme und begann dann, im Gras umherzukriechen. Schließlich hielt er etwas hoch und rief triumphierend: »Da! Eine Perle! Die erste! Die anderen finden wir auch noch alle, wart nur ab.«
    Bewundernd sah Meggie zu, wie er Perle auf Perle fand und jedesmal hochhielt. Aber dann dachte sie daran, wie leicht Agnes bei ihrer gewiß sehr empfindlichen Haut einen Sonnenbrand bekommen konnte, und sie begann, die Puppe anzuziehen. Wirklich beschädigt schien sie nicht zu sein. Die Arme und Beine waren schmutzig, das Haar sehr zerzaust ...
    Meggie zerrte an einem der beiden Schildpattkämme, die in ihrem eigenen Haar steckten, jeweils über den Ohren. Sie zog ihn heraus und begann damit Agnes zu kämmen. Die Puppe hatte echtes Haar - Menschenhaar. Es war blond gefärbt, und die einzelnen Haare, kunstvoll verknotet und mit Leim befestigt, hafteten an einem Stück Leinwand.
    Meggie kämmte. Die Zinken ihres Kamms verfingen sich im zottligen Haar der Puppe, und das Mädchen zerrte ungeschickt. Plötzlich passierte es, das Furchtbare. Das ganze Haar löste sich und hing jetzt als wirres Knäuel an den Zinken des Kamms. Über Agnes’ glatter Stirn war nichts, kein Kopf, kein kahler Schädel. Nur ein grauenvolles, klaffendes Loch. Zitternd beugte Meggie sich vor und spähte hinein. Die zarten Konturen des Puppengesichts, hier fanden sie sich gleichsam in umgestülpter Form wieder ... die Wangen, das Kinn ... zwischen den leicht geöffneten Lippen schimmerten die Zähne, nur daß sie auf dieser Seite schwärzlich wirkten, sehr häßlich ... und ein Stück darüber befanden sich die beweglichen Puppenaugen ... zwei entsetzliche Kugeln mit Draht daran, der Agnes’ Kopf durchbohrte ...
    Meggie stieß einen schrillen Schrei aus - gar nicht wie ein Kind. Sie schleuderte Agnes fort und schrie und schrie, am ganzen Körper zitternd, das Gesicht in den Händen verborgen. Dann spürte sie, wie Frank sie tröstend in die Arme nahm, und sie drängte sich schutzsuchend an ihn und legte ihren Kopf auf seine Schulter und fühlte sich mehr und mehr beschwichtigt; nahm sogar wahr, wie gut er doch roch, ganz nach Pferden und Schweiß und Eisen. Als sie wieder ruhig war, ließ Frank sich von ihr erzählen, was sie so entsetzt hatte. Und dann nahm er die Puppe, blickte in ihren hohlen Kopf und fragte sich unwillkürlich, ob seine Kinderwelt früher auch so voll sonderbarer Schrecken gewesen war. Doch die bedrängenden Erinnerungen, die in ihm aufstiegen, hatten mit Menschen zu tun und ihrem Getuschel und ihren kalten Blicken; und mit dem kummervollen, wie verkniffenen Gesicht seiner Mutter; und mit dem Zittern ihrer Hand, die seine umschloß; und mit der eigentümlich gekrümmten Haltung ihrer Schultern.
    Was hatte Meggie bloß gesehen, daß sie fast so etwas wie einen Schreikrampf bekam? Was war da in dem Kopf? Hätte Agnes, als sich ihr Haar löste, geblutet, Meggie wäre längst nicht so
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