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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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bescheiden er war, war weniger als halbvoll.
    Dunkle Klappsitze in ordentlichen Reihen waren gesprenkelt mit den glänzenden Scheiteln kahlköpfiger Mathematiker. Da und dort saßen verschmitzt blickende französische Locher mittleren Alters unter den Gelehrten, erkennbar auch am sommerlichen Leinen ihrer zwar eleganten, doch von der Mode überholten Anzüge. Die letzten drei Reihen waren besetzt von den Mitgliedern eines Pariser Frauenklubs, die sich in der Sommerhitze Luft zufächelten und sehr hörbar plauderten, denn sie hatten längst den Faden des Vortrags verloren.
    Lady Ada Byron wendete eine Seite und rückte mit einem behandschuhten Finger an ihrem Zwicker. Seit einigen Minuten hatte eine große grüne Schmeißfliege ihr Rednerpult umkreist. Nun, des Kreisens müde, landete sie auf der gepolsterten, spitzenbesetzten Schulter des gnädigen Fräuleins. Lady Ada nahm keine erkennbare Notiz von den Zuwendungen dieses energischen Ungeziefers, sondern fuhr in ihrem akzentbehafteten Französisch tapfer fort.
    »Unser aller Leben würde sehr an Klarheit gewinnen, wenn die menschliche Rede als das Abgeblätterte eines tieferen formalen Systems interpretiert werden könnte. Man brauchte nicht mehr über die ernsten Doppelsinnigkeiten menschlicher Sprache zu grübeln, sondern könnte die Gültigkeit eines jeden Satzes durch den Bezug auf einen fixierten und präzise zu beschreibenden Satz von Regeln und Axiomen beurteilen. Ein solches System zu finden, die Characteristica Universalis , war der Traum des großen Philosophen Leibniz …
    Und doch demonstrierte die Entwicklung des sogenannten Modus-Programms, dass jedes formale System sowohl unvollständig wie auch unfähig sein muss, seine eigene Folgerichtigkeit nachzuweisen. Es gibt keine endliche mathematische Methode, die Eigenschaft der ›Wahrheit‹ auszudrücken. Die transfinite Natur der Byron-Mutmaßungen war das Verderben der Grand Napoleon; das Modus-Programm führte eine Serie von ineinandergelegten Schleifen ein, die schwierig einzurichten, aber noch schwieriger zu löschen waren. Das Programm lief, machte seine Maschine jedoch nutzlos! Es war eine schmerzhafte Lektion über die unsicheren Fähigkeiten selbst unserer besten Ordinateurs.
    Dennoch glaube ich – und ich muss dies mit Nachdruck betonen –, dass die Modus-Technik der Selbstbezüglichkeit eines Tages die Grundlage eines wahrhaft überragenden Metasystems kalkulatorischer Mathematik bilden wird. Der Modus hat meine Vermutungen bewiesen, aber ihre praktische Anwendung verlangt nach einer Maschine von enormer Kapazität, die zu Wiederholungen von ungeahnter Verfeinerung und Komplexität fähig sein wird.
    Ist es nicht seltsam, dass wir bloßen Sterblichen über einen Begriff – Wahrheit – sprechen können, der unendlich kompliziert ist? Und doch – ist nicht ein geschlossenes System die Essenz des Mechanischen des Nichtdenkenden? Und ist ein offenes System nicht die Definition des Organischen, des Lebens und Denkens?
    Wenn wir uns das gesamte System der Mathematik als eine große Maschine zum Beweis von Theoremen vorstellen, dann müssen wir sagen, dass eine solche Maschine durch das Mittel des Modus lebt und sogar ihr eigenes Leben beweisen könnte, sollte sie die Fähigkeit zur Selbstbetrachtung entwickeln. Die Linse zu einer solchen Selbstbetrachtung und Selbstprüfung ist von einer Natur, die wir noch nicht kennen; wir wissen jedoch, dass sie existiert, denn wir selbst besitzen sie.
    Als denkende Wesen können wir uns das Universum vorstellen, obwohl wir keine Möglichkeit haben, ihm eine Übersicht zu geben. Der Begriff ›Universum‹ ist tatsächlich kein rationales Konzept, obwohl er von einer Unmittelbarkeit ist, der sich kein denkendes Wesen entziehen kann, und der Drang, sein Wirken und die Natur unseres eigenen Ursprungs in ihm zu erkennen, erscheint uns als das höchste Ziel wissenschaftlicher und philosophischer Forschung.
    In seinen letzten Jahren war der große Lord Babbage, ungeduldig angesichts der Grenzen der Dampfkraft, mit Überlegungen beschäftigt, Blitzentladungen zu zähmen und der Sache des Rechnens dienstbar zu machen. Sein ausgeklügeltes System von ›Widerständen‹ und ›Kapazitoren‹ ist zwar kennzeichnend für sein Genie, bleibt aber fragmentarisch und muss noch ausgearbeitet werden. Tatsächlich wird es von vielen einsichtslosen Menschen als das Steckenpferd eines alten Mannes bespöttelt. Aber die Geschichte wird ihr Urteil sprechen, und dann, so hoffe
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