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Die Dichterin von Aquitanien

Titel: Die Dichterin von Aquitanien
Autoren: Tereza Vanek
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sich auf einen Stuhl und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Morgen würde sie nachdenken und Pläne für die Zukunft fassen, doch im Augenblick fühlte sie sich zu schwach. Als der Abend dämmerte, legte Marie sich nieder, denn sie wollte die noch vorhandenen Kerzen für Notzeiten aufbewahren. In der Vorratskammer fand sie noch ein Stück harten, trockenen Brots, an dem sie so lange herumnagte, bis es ihr gelang, ein paar Brocken abzubeißen. Diese spülte sie mit dem letzten Rest abgestandenen Wassers herunter. Dann sank sie auf ihre Matte und begann, leise zu beten. Guillaume war nie ein besonders frommer Mensch gewesen. Seine tief sitzende Abneigung gegen jegliche Machthaber hatte es ihm unmöglich gemacht, sich der Autorität eines Gottes zu unterwerfen. Marie hatte seine spöttische, aufmüpfige Haltung übernommen, doch nun, da sie sich fühlte wie ein Kind, das allein durch einen finsteren Wald irrte, flehte sie verzweifelt um himmlischen Beistand. Irgendwann sprach sie das Ave Maria, wie der Pfarrer es sie gelehrt hatte. In ihrem Kopf bekam die Gottesmutter immer klarer die Züge der schönen Dame, bevor das tosende Dunkel des Schlafs Marie umfing.
     
    Cleopatra schrie so gellend, dass Marie sogleich aufsprang und aus ihrer Kammer eilte, um nach dem Vogel zu sehen. Zum Glück drang bereits morgendlichen Dämmerlicht durch die Fensteröffnungen. Grauenhafte Bilder schossen
ihr durch den Kopf. Hatte sie die Tür gründlich genug verriegelt, um zu verhindern, dass wilde Tiere eindrangen? Vielleicht irrten bereits Wölfe im großen Raum herum, obwohl Guillaume stets gemeint hatte, diese Tiere hätten gewöhnlich ebensolche Angst vor Menschen wie diese vor ihnen und würden nur angreifen, wenn sie sich bedroht fühlten oder vor Hunger verzweifelten. Wenn er recht hatte, dann würde ihr bloßes Auftauchen sie verjagen und Cleopatra wäre gerettet. Sie sah sich panisch um, doch nichts regte sich außer dem grünen Vogel, der aufgeregt herumflatterte. Nur ein Geräusch drang beharrlich an Maries Ohr. Zunächst wurde es vom Schreien Cleopatras übertönt und blieb undeutlich, doch als der Vogel sich durch Maries sanftes Zureden beruhigt hatte, konnte sie ein Klopfen an der Tür ausmachen. Marie atmete erleichtert auf. Sie musste lernen, ausgeglichener zu werden, wenn sie noch eine Weile allein hier überleben wollte.
    »Wer ist da?«, rief sie und öffnete, wobei ihr sogleich einfiel, dass dies unvorsichtig war. Aber ein Bösewicht hätte die Tür bereits eingeschlagen. Vermutlich wollte Pierre nach ihr sehen. Oder gar der Pfarrer.
    Ein unbekanntes Männergesicht tauchte vor Marie auf. Es war glatt rasiert, glänzte wie ein frischer Apfel und wirkte dadurch sehr jung, doch als sie den Fremden genauer ansah, entdeckte sie feine Fältchen unter seinen Augen.
    »Lebt hier ein Guillaume, der einst Gaukler und Sänger war?«, fragte der ungebetene Gast ohne sich vorzustellen.
    Marie fühlte einen Stich im Herzen, dann antwortete sie wahrheitsgemäß: »Er lebte hier bis zu seinem Tod vor ungefähr zwei Wochen.«
    Sie musterte den Fremden eindringlich. Er trug schlichte, aber mit Sorgfalt angefertigte Kleidung. Seine Beine steckten in robusten Lederstiefeln, der Kittel war moosgrün und
wurde mit einem Gürtel zusammengehalten, dessen bronzene Schnalle kunstvoll verziert war. Unter dem Filzhut ragte langes, fein gewelltes Haar hervor, dessen brauner Farbton dem ihren glich.
    »Nun, das ist bedauerlich«, fuhr der Fremde ungerührt fort. »Ich komme wegen eines Mädchens, das ihm zur Obhut anvertraut wurde. Marie d’Anjou lautet sein Name.«
    Marie wurde etwas schwindelig.
    »Ich wuchs in seiner Obhut auf«, erklärte sie verwirrt. »Man nennt mich Marie, doch wurde ich hier geboren und nicht in Anjou.«
    Der Fremde machte eine abfällige Handbewegung.
    »Das ist unwichtig. Es geht um die Abstammung, versteht Ihr, Demoiselle?«
    Marie nickte, obwohl sie gar nichts verstand. Sie fürchtete, vor diesem Fremden als völlige Idiotin dazustehen, wenn sie genauer nachfragte.
    »Wollt Ihr hereinkommen und einen Schluck Wasser trinken?«, fragte sie höflich und dachte dann bestürzt, dass der vornehme Fremde sicher kein abgestandenes Wasser mochte.
    »Ich wurde bereits im Dorf bewirtet, aber herzlichen Dank für Eure Gastfreundschaft«, meinte der Mann nun erstaunlich respektvoll. »Ich habe Geheiß, Euch mitzunehmen, Demoiselle Marie. In die Normandie, wo Euer Onkel Euch zu sehen wünscht.«
    Marie rieb sich die Stirn. All das
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