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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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Bluthochdruck.
    Schon nach dem ersten Absatz spüre ich das Unbehagen meiner Kollegen – vermutlich denken sie: »Will er uns wirklich raten, Bluthochdruck nicht mehr zu diagnostizieren? Wir diagnostizieren und behandeln ihn jetzt schon zu wenig!« In der Tat ist die Diagnose und Behandlung des Bluthochdrucks eine unserer wichtigsten ärztlichen Maßnahmen. Und es stimmt, dass wir es nicht häufig genug tun. Es gibt Menschen mit unentdecktem Bluthochdruck, die von einer Behandlung enorm profitieren würden.
    Aber es stimmt auch, dass wir zu viel des Guten tun. Manche Menschen werden unnötig diagnostiziert und behandelt – sie sind Opfer der Diagnosefalle. Bluthochdruck war angeblich der erste Zustand, der bei symptomlosen Menschen behandelt wurde. 1 Vor dem Ende des 20. Jahrhunderts verschrieben die Ärzte meist nur jenen Patienten Medikamente, die Krankheitssymptome aufwiesen. Aber der Bluthochdruck hat das geändert. Plötzlich bekamen Menschen ohne Beschwerden – die keine gesundheitlichen Probleme wahrnahmen – eine Diagnose und Medikamente. Aus Menschen wurden Patienten – es war ein wirklich erstaunlicher Paradigmenwechsel. Die Suche nach Bluthochdruckdiagnosen bei Menschen ohne Symptome konnte bei einigen symptomatische Krankheiten verhindern, jedoch auf Kosten derjenigen, denen eine Diagnose gestellt wurde, obwohl sie nie an den Symptomen des Bluthochdrucks gelitten hätten und auch nicht daran gestorben wären. Mit anderen Worten: auf Kosten von Überdiagnosen.
Ein Zustand, der behandelt werden muss
    Ich arbeite in einem kleinen Krankenhaus des Kriegsveteranenministeriums in White River Junction, Vermont. Früher kümmerte ich mich einen oder zwei Monate im Jahr um Patienten, die so krank waren, dass sie in dieses Krankenhaus aufgenommen wurden. Eines Abends führte ich ein Aufnahmegespräch mit einem siebenundfünfzig Jahre alten Mann, der mit starken Schmerzen in der Brust in die Notaufnahme gekommen war. Mr. Lemay berichtete, er habe diese Schmerzen immer häufiger. Manchmal traten sie auf, wenn er zu Fuß unterwegs war oder sich auf andere Weise anstrengte, und bisweilen spürte er Schmerzen, wenn er gar nichts tat.
    Der Begriff Brustschmerzen hat in der Medizin eine fast magische Bedeutung. Er verlangt sofortiges Handeln und kann eine ganze Serie von Tests und Maßnahmen auslösen. Der Grund ist, dass Brustschmerzen mitunter auf einen Herzinfarkt hinweisen – die häufigste Todesursache in den Vereinigten Staaten. Wenn ein Patient Brustschmerzen nur erwähnt, fühlen wir uns gedrängt, sehr schnell mehrere Vorkehrungen zu treffen. Wir verabreichen ihm Sauerstoff, geben ihm Aspirin und überprüfen sein Elektrokardiogramm (EKG). Mr. Lemays EKG war deutlich abnorm. Es zeigte, dass ein Teil seines Herzens nicht genug Sauerstoff bekam. Das war ein Zeichen für einen bevorstehenden Infarkt.
    Aber noch etwas war ausgesprochen abnorm. Sein Blutdruck betrug 202/117. Der Blutdruck wird mit zwei Zahlen gemessen, die erste (in diesem Fall 202) steht für den systolischen Blutdruck, den höchsten Druck in den Arterien, der sofort nach der Kontraktion des Herzens entsteht. Die zweite Zahl (hier 117) ist der diastolische Blutdruck, der niedrigste Druck in den Arterien. Dies ist der Druck unmittelbar vor der Kontraktion des Herzens, wenn das Herz ganz erschlafft ist. Wird ein Arzt gefragt, welcher Blutdruck normal sei, nennt er gewöhnlich die Zahlen 120/80. Die Frage ist: Ab wann ist der Blutdruck abnorm? Die meisten Ärzte stimmen darin überein, dass ein systolischer Druck über 160 oder ein diastolischer Druck über 90 abnorm hoch ist. Und wir alle sind der Meinung, dass 202/117 abnorm hoch ist. Richtig hoch. Sogar sehr, sehr hoch.
    Da ein drohender Herzinfarkt eine ernste Sache ist, nahm ich Mr. Lemay in die Intensivstation auf. Wir verabreichten ihm Medikamente, um seinen Blutdruck zu senken, und seine Brustschmerzen verschwanden rasch. Er bekam keinen Infarkt. Nun ja, nach heutigen Maßstäben vielleicht doch. Die Geschichte spielt Anfang der neunziger Jahre, bevor wir routinemäßig den Troponinspiegel untersuchten (einen sehr empfindlichen Indikator für Herzschäden). Damals stellten wir die Diagnose anhand des Elektrokardiogramms und relativ grober Labortests. Ich vermute, dass wir bei Mr. Lemay heute einen kleinen Herzinfarkt diagnostizieren würden – einen subendokardialen Herzmuskelinfarkt. Wie dem auch sei, einige Tage später fuhr er nach Hause. Das war vor über fünfzehn Jahren. Und seither
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