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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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tatsächlich schaden, und exzessives Diagnostizieren kann Behandlungen zur Folge haben, die schlimmer sind als die Krankheit selbst.
    In diesem Buch geht es vor allem um die Überdiagnose. Das Wort erweckt den Eindruck, als bedeute es lediglich »übertriebenes Diagnostizieren«; aber es hat auch eine präzisere Bedeutung. Eine Überdiagnose liegt vor, wenn bei einem Patienten eine Krankheit festgestellt wird, die niemals Symptome auslöst oder zum Tod führt.
    Als ich vor ein paar Seiten einige Krankheiten bei mir diagnostizierte, handelte es sich also nicht in jedem Fall um eine Überdiagnose, denn ich litt ja tatsächlich an Symptomen wie Sodbrennen, kalten Händen und so weiter (trotzdem kann es sich durchaus um übertriebene Diagnosen handeln, weil meine Symptome banal waren). Allerdings waren der leicht erhöhte Blutdruck und das leicht erhöhte Gewicht völlig symptomfrei. In diesen Fällen könnte man tatsächlich von Überdiagnosen sprechen. Das Gleiche gilt für alle anderen Befunde, die nach weiteren Untersuchungen gestellt worden wären. Mit anderen Worten: Eine Überdiagnose kann nur vorkommen, wenn ein Arzt bei einem Patienten eine Diagnose stellt, der keine damit zusammenhängenden Symptome aufweist. Das ist möglich, wenn ein Arzt Krankheiten bewertet, die nicht miteinander zusammenhängen, und dabei auf unerwartete Diagnosen stößt; aber es geschieht meist, weil Ärzte gerne frühe Diagnosen stellen, entweder als Teil einer planmäßigen Vorsorgeuntersuchung oder bei Routineuntersuchungen. Eine Überdiagnose ist also die Folge der Begeisterung für die Früherkennung.
    Ärgerlich ist, dass wir Ärzte nicht wissen, ob ein Patient Opfer einer Überdiagnose wurde, es sei denn, er verzichtet auf eine Behandlung, lebt bis zu seinem Tod symptomfrei und stirbt an einer anderen Krankheit. Aber wir wissen, dass die Gefahr von Überdiagnosen steigt, wenn wir bei Gesunden immer mehr Diagnosen stellen.
    Die Überdiagnose ist ein relativ neues Problem in der Medizin. Früher gingen die Menschen nicht zum Arzt, wenn sie sich wohlfühlten – sie warteten meist, bis Symptome auftraten. Zudem wurden Gesunde von den Ärzten nicht ermuntert, sich untersuchen zu lassen. Deshalb stellten die Ärzte weniger Diagnosen als heute.
    Aber das Paradigma hat sich geändert. Das Ziel ist die Früherkennung. Die Menschen suchen einen Arzt auf, wenn es ihnen gut geht, und die Ärzte wollen Krankheiten früher entdecken. Darum werden mehr Krankheiten im Frühstadium als im Spätstadium entdeckt. Wir stellen also mehr Diagnosen, auch bei Menschen ohne Symptome. Bei einigen dieser Menschen werden sich Symptome entwickeln, bei anderen nicht. Die Letzteren sind Opfer von Überdiagnosen.
    Das Problem der Überdiagnose ist also darauf zurückzuführen, dass wir heute mehr Menschen untersuchen, sowohl Kranke (mit Symptomen) als auch Menschen mit Abweichungen von Normalwerten (aber ohne Symptome). Verschlimmert wird das Problem dadurch, dass die Definition des Begriffs »Anomalie« immer weiter gefasst wird.
    Mit diesem Buch will ich aufzeigen, wie es zu Überdiagnosen kommt, warum diese gefährlich sein können und wo die Ursachen liegen. Ich hoffe, ich kann Ihnen helfen, kritisch darüber nachzudenken, ob es wünschenswert ist, vorzeitig zu einem Patienten gemacht zu werden. Warum sollten Sie sich mit Überdiagnosen beschäftigen? Lassen Sie es mich klar und deutlich ausdrücken: Weil Ärzte nicht wissen, bei wem eine Überdiagnose vorliegt und bei wem nicht, und weil die Opfer einer Überdiagnose oft behandelt werden. Aber diese Patienten profitieren nicht von einer Behandlung. Nichts muss in Ordnung gebracht werden, weil sie weder Symptome bekommen noch an ihrem Problem sterben werden. Sie brauchen also keine Therapie. Eine Therapie kann ihnen nur schaden. Und die schlichte Wahrheit lautet: Fast alle Behandlungen können irgendwelche Schäden anrichten.
Worum es in diesem Buch nicht geht
    In diesem Buch geht es nicht darum, was Sie tun sollten, wenn Sie krank sind. Es wendet sich nicht an die wenigen Schwerkranken (denen die Medizin viel zu bieten hat), sondern an die vielen, denen es im Wesentlichen gut geht (oder ging) – und an jene, die krank sind und bei denen die Gefahr besteht, dass man ihnen weitere Krankheiten einredet. Natürlich ist dieses Buch keine Entschuldigung für schlampige Diagnosen bei Kranken. Diagnostik ist immer wichtig, wenn Menschen leiden, und es ist ebenfalls wichtig, gute Diagnosen zu stellen. Keine meiner
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